Das Leben geht weiter

Heinz war im August 1972 eingeschult worden. Während der Kur in Bad Oeynhausen hattest du einer Lehrerin, die auch zur Kur war, eine Arbeit gezeigt, die Heinz bei der Einschulungsprüfung angefertigt hatte. Sie betrachte die Bastelei eingehend und meinte, dass Heinz noch einiges zur Schulreife fehle. Dass verunsicherte dich, du holtest dir aber keine Hilfe. Anfangs war Heinz ganz begeistert von Schreiben, Lesen und.Malen, hatte aber das Pech, neben einem geistig behinderten Jungen zu sitzen, der ihn so störte, dass er dem Unterricht nicht folgen konnte. Die Lehrerin merkte es nicht. Noch gab es weder Integration noch Inklusion. Als er die Aufgaben nicht mehr lösen konnte, musste er mit dem anderen Jungen die Schule verlassen. Im August 1973 wurde er erneut eingeschult

Das Pädagogische Zentrum hat eine neue Methode entwickelt, nach der die Kinder schreiben lernen. Mit Abstreichen und Vergleichen, aus heutiger Sicht fast digital, weit entfernt von der Ganzheitsmethode. Du bist machtlos. So wird Heinz zum Legastheniker. In der Fibel vom Vorjahr kann er die Worte alle lesen. Die Sozialarbeiterin der Familienberatung ist auf Dauer krank geschrieben, und verlangt von dir, dich selbst dahinter zu klemmen, dass Heinz eine Therapie bekommt. Doch du hast nicht die Kraft dazu. Hättest du 1972 auf halbtags gehen sollen? Wäre es überhaupt möglich gewesen. Das fragst du dich nach so vielen Jahren noch immer. Du hättest wieder zum Sozialamt gehen müssen.

Die TFH hatte ein neues Gebäude fertiggestellt. Du kamst mit einer neuen Kollegin, Frau Koch ins Personalbüro und musstest keine Listen mit Rechnungen mehr schreiben. Ihr hattet den gleichen Sinn für Humor. Ihr hattet viel Publikumsverkehr und wolltet nicht nach jedem Besucher die Hände waschen. Deshalb klebte ein Bild an der Tür, auf dem ein Mann einer Frau den Fuß küsst. Darunter stand: Besser als Hände schütteln. Frau Koch erzählte auch von ihrer ersten Liebe und den heiteren Verwicklungen, die es dabei gegeben hatte. Als es in Frau Kochs Ehe kriselte, weil sie ein früherer Kollege umwarb, gabst du ihr die Telefonnummer von Frau L, der Graphologin. Nach einigen Treffen und einigen Gesprächen, in denen Frau Koch klar wurde, was sie selbst zu dem Konflikt beigetragen hatte, kehrte sie wieder zu ihrem Mann zurück. Frau L. warnte dich: Es kann sein, dass Frau Koch jetzt ihnen gegenüber aggressiv wird, nachdem Sie ihr geholfen haben. Das trat auch ein. An der TFH waren Stellen in einer höheren Gehaltsstufe rar und so bewarb sich Frau Koch, die die medizinische Nomenklatur beherrschte, auf eine höher dotierte Stelle in einem Krankenhaus und verließ die FHS Ihr bliebt aber weiter in Kontakt und so erfuhrst du, dass sie nach kurzer Zeit schwanger wurde. Frau L. meinte, viel zu bald. Als sie ihren kleinen Jungen zur Welt gebrachte hatte, lud sie dich ein. Kochs hatten einen Windhund, mit dem sie an den Wochenenden an Hunderennen teilnahmen. Der Afghane hatte ein Kochbuch, das du ihr geborgt hattest, angeknabbert, und so kauftest du dir gleich ein neues Kochbuch. Sie erzählte, dass sich bei dem Kleinen bei der Geburt die Nabelschnur um den Hals gewickelt hätte und dass er schrie, wenn er irgendwo feststeckte. Als ihr Mann in Hessen eine Anstellung als Ingenieur bekam, zog die Familie wieder nach Göttingen, wo sie ursprünglich herkam. Kurz nachdem Frau Koch weg war, ging die Leiterin der Personalstelle in Pension und ein junger Beamter wurde eingestellt. Kurz nach der Pensionierung verstarb die Büroleiterin. Ihre Schreibkraft, etwa Mitte fünfzig, sollte mit einer etwas besser ausgebildeten Sekretärin, die die heute in Vergessenheit geratene Lochkartentechnik beherrschte und deshalb sehr selbstbewusst auftrat, das Büro teilen. Mit so einer alten einer alten Frau möchte ich nicht in einem Zimmer sitzen, wehrte sie sich. Und so nahm Frau Lehmann den Stuhl von Frau Koch ein. Wir vertrugen uns gut. Manchmal dachte ich, dass sie sich sicher gefreut hätte, wenn sie nach meinem Stellenwechsel etwa von mir gehört hätte

Die Bäuerinnenschule in Herrsching ist noch immer ein Stück Heimat für dich. Frau Dr. Weber ist eine der Frauen, die dazu beitrugen, dass du dich nicht mehr so infrage gestellt hast. Als Kursteilnehmerin musstest du damals viel Kritik einstecken, hattest du doch die letzten Jahre als Magd auf Bauernhöfen gearbeitet. In Franken warst du nicht akzeptiert worden, solange du nach der Schrift sprachst und nun fielst du zwischen den altbayerischen Bauerntöchtern mit deinem harten Mittelfränkisch auf. Trotzdem ließen dich die anderen Kursteilnehmerinnen das Kurstagebuch in eigener Regie führen, keine hielt ihr Versprechen., einige Eintragungen zu übernehmen.

Frau Dr. Weber lädt euch ein, zwei Wochen Urlaub in der Bäuerinnenschule zu verbringen, die inzwischen zu einem Bildungszentrum Bäuerinnen und Bauern ausgebaut wurde. Als du nach dem Preis fragst, antwortet sie, dein Heiratsgut wird’s schon nicht kosten. Mit dem Zug zu fahren findest du mühsam. So rufst du eine Mitfahrzentrale an. Mitfahrzentrale Sebastian. Der Inhaber klingt erstaunt, als du dich mit Frau Sebastian meldest. Er macht dir einen günstigen Preis. Ihr werdet an der Haustür abgeholt. Der Fahrer sammelt noch eine Dame mit ihrem Enkel ein. Ihr Ziel ist Denkendorf. Denkendorf? Als ihr 1967 mit deinem Ex-Mann und den beiden Kindern mit dem Ford M 15 nach Herrsching gefahren seid, riss der Keilriemen der Lichtmaschine. Du zogst deine Strumpfhose aus, damit ihr zu einer Werkstatt fahren konntet.

Der Fahrer, ein stattlicher Fünfziger, erzählt: In meinem Urlaub fahre ich erst einige Tage für die Mitfahrerzentrale, um was für die Urlaubskasse zu verdienen. Seit das Benzin so teuer ist, lohnt es sich aber nicht mehr und ich werde aufhören. In einer Bauernwirtschaft gibt es preiswertes Mittagessen. Du hast seit einigen Tagen eine neue Zahnprothese mit Stahlskelett. Die soll nicht mehr so leicht brechen. Dein Gaumen schmerzt beim Essen, weil es noch ungewohnt ist.

Dann die altbekannte Strecke von München über Gilching und Seefeld nach Herrsching. Endlich begrenzen wieder die Berge den Horizont. In deinen Träumen biegst du immer um eine Ecke und siehst dann die Berge. Die Bäuerinnenschule liegt außerhalb des Ortes Richtung Breitbrunn. Das Tor vor dem Gebäude ist offen. Ein herzlicher Empfang. Elfriede ist immer noch da. Wo ist Maria? Die beiden waren gute Freundinnen. – Sie ist letzten Winter an der Grippe gestorben. Das Herz hat versagt. Traurig, sie fehlt mir sehr.

Frau Dr. Weber trefft ihr erst am Abend. Die beiden Buben sind aber groß geworden. Als du 1967 mit Horst da warst, konnte Heinz gerade laufen. Am Zaun hängt ja immer noch das Schild: „Warnung vor dem Hund“, wunderst du dich. Wir lassen es hängen. Als Schutz, erklärt Frau Dr. Weber .
Du gehst mit den Kindern baden. Manchmal beschäftigen sie sich selbst. So sitzt du allein am Strand, als ein etwa dreißigjähriger nackter Mann mit Schuhen an den Füßen, Hemd und Hose unter dem Arm, heran spaziert. Ist hier ein Nacktbadestrand? – Nein, das Ufer gehört zur Bäuerinnenschule. Können Sie bitte gehen? –
Sie haben geile Brüste, dann verzieht er sich. Die Sekretärin verständigt die Polizei. Ein armer Bursche. Er ist harmlos, beschwichtigt dich der Polizist.
Am nächsten Wochenende wird Ruedi Bürki aus Bern kommen. Er darf im Haus übernachten. Du hast ihm auf seine Anzeige in der Annabelle geschrieben. Seine Frau hat ihn verlassen. Nun hält er Ausschau nach einer Frau mit Kindern, die die Lücke füllen soll. Er hat zahlreiche Zuschriften erhalten. Deshalb schickte er kopierte Antworten. Den Frauen, die ihm nicht zusagen, versüßt er die Absage mit einem Zuckerli. Die anderen will er nacheinander in Augenschein nehmen. Mein nicht ganz naturgetreues Foto hat ihm gefallen. Da du mit den Kindern am Ammersee Urlaub machst, liegt es nahe, euch auf halbem Wege zu treffen.

Ruedi, ein dunkelhaariger Alemanne, arbeitet bei der Schweizer Post als Computerfachmann. Er kommt abends hungrig an, ein Berner mit allen Eigenschaften, die man ihnen nachsagt. Ihr setzt euch in den Speisesaal zu einem kleinen Imbiss. Er isst mit der Vorlegegabel. – Ich bin ganz erstaunt, wie groß der Ammersee ist, ich dachte, er wäre viel kleiner. – Zum Schlafen geht ihr in eine der Dachkammern. Weil das Bett quietscht, legt ihr die Matratze auf den Fußboden. Er steht auf 69. Am Ende sind Klitoris und eine Schamlippe geschwollen. Es tut ein bisschen weh, als er eindringt. Am nächsten Tag muss er wieder heimfahren. Noch ein kleiner Spaziergang. Du hast jetzt den anderen Frauen gegenüber einen Vorteil, weil wir zusammen im Bett waren. Er lässt offen, ob wir uns wiedersehen. Ein Kuss. Du schautest seinem Döschwo (deux chevaux) nach. Zwischen den Beinen schmerzt es noch.
Der Mann aus Berlin holte dich am Ende des Urlaubs wieder ab, machte aber einen Umweg über Niederbayern, wo er die Frau mit ihrer Enkeltochter abholte. So lernst du ein dir unbekanntes Stück Bayern kennen.

Du hast dich in Ruedi verliebt und rufst ihn deshalb einige Male aus Berlin an. Das ist ihm zu viel. Ich habe noch nicht alle Frauen getroffen und kann mich deshalb noch nicht entscheiden. Da er von deinem jüngeren Sohn angetan ist, hast du ihn einen Brief schreiben lassen: Dein Heinz hat dich lieb und schickst ihn ab. Postwendend kommen alle Bilder und Briefe mit einem bitterbösen Schrieb zurück. Wie kannst du einen kleinen Jungen dazu benutzen, mich rum zu kriegen? Ich will nichts mehr von dir wissen, schrieb er. Es war, als hätte dich der Schlag getroffen und du verbranntest den Brief samt Umschlag. Wieder eine enttäuschte Illusion bei der Suche nach einem Partner. Doch welche Zukunft hätte es gehabt? Was wolltest du in der Schweiz? Völlig unsinnig. Du hättest dich abhängig gemacht.

Dann lieber weiter in Berlin suchen.

Peter, der Mittwochsmann

Peter ging 1974 fast jede Woche mittwochs mit dir zum Mittagessen im oberen Stockwerk der Mensa. Auch der Tag, an dem du Peters Stimme zum ersten mal hörtest, war ein Mittwoch. Peter schrieb als einziger auf eine Anzeige, die du im November 1973 in der Wochenendausgabe einer Berliner Tageszeitung aufgabst. Die Filiale an der Bushaltestelle am Wilhelmsruher Damm lag auf deinem täglichen Arbeitsweg. Am Dienstag stiegst du auf dem Nachhauseweg aus, gespannt, ob dir jemand geschrieben hatte. Es war nur ein Brief gekommen, anscheinend, weil die Anzeige ohne Kennwort erschienen war. Die Angestellte in der Geschäftsstelle bedauerte: Es tut mir leid. Wir können die Anzeige am nächsten Wochenende noch einmal in die Zeitung setzen. Sie können aber auch das Geld zurück haben. Da du erst einmal abwarten wolltest, ließt du dir das Geld geben. Peter M. hatte die Anzeige ausgeschnitten, auf den Umschlag geklebt und den Brief an die Filiale geschickt. Die Schrift war sehr groß, drei oder vier Worte füllten eine ganze Zeile. Peter schrieb, er sei Architekt, seine Frau sei gestorben und er habe zwei zehnjährige Zwillingstöchter.

Am Mittwoch war Feiertag, Buß- und Bettag. Dein Herz schlug schneller, als du die letzte Zahl seiner Telefon-Nummer wähltest. Peter meldete sich mit Zunamen und dein Herzklopfen legte sich allmählich. Seine Stimme klang melodisch, angenehm vertraut. Er war wie du in Thüringen geboren. Es wäre schön, wenn wir uns bald treffen könnten. Aber am Sonnabend bin zum Abendessen leider bei einem meiner Handwerker, einem Tischlermeister, eingeladen. Es ist zwar eher ein Höflichkeitsbesuch, ich kann ihm aber schlecht absagen, weil er mich schon einige Male vergeblich eingeladen hat. Aber wissen Sie was, ich sage einfach, dass ich Sie mitbringe. Ja? Wollen Sie? Mutig sagtest du nach einigem Zögern zu, obwohl dir mulmig zumute war. Ein fremder Mann. Er klang vertrauenswürdig: Ich freue mich, dass sie mich begleiten und hole Sie dann am Sonnabend gegen halb sieben ab.- Ja, das passt mir. Dann also bis zum Samstag Abend. Auch du freutest dich auf das Treffen, obwohl du sehr gespannt und aufgeregt warst. Als er fast pünktlich klingelte, zogst du eilig den roten Mantel über und fuhrst mit dem Aufzug hinunter. Kurzes gegenseitiges Mustern und eine höfliche Begrüßung. Ein großer Mann mit fast kinnlangen glatten blonden Haaren und freundlichen blauen Augen. Sein Lächeln nahm dich sofort für ihn ein. Ihr stiegt in seinen weißen Talbot. Es war nicht schwer, miteinander warm zu werden. Kurz vor dem Ziel fragte er, wollen wir uns nicht duzen, damit die Gastgeber nicht zu allzu sehr befremdet sind?

Der Couchtisch war schon gedeckt und die Frau des Tischlers bewirtete euch mit einem kalten Abendessen. Für dich war der Abend wie ein Theaterstück. Ab und zu warfst du ein paar Worte in die Unterhaltung ein, lobtest das Essen und anderes mehr. Herr A. war bemüht, sich seinem Auftraggeber in einem guten Licht darzustellen und zeigte stolz seine handwerklich perfekt ausgestattete Wohnung. Eines der Vorzeigestücke war ein ausschwenkbarer Fernseher, der über der Türe im Schlafzimmer eingebaut war. Wieder im Wagen, sagte Peter anerkennend: Das haben wir gut hin gekriegt. Für mich allein wäre der Besuch eher langweilig gewesen. Ein eingebauter Fernseher interessiert mich die Bohne. Anfangs hatte ich ja befürchtet, du wärst aggressiv, als ich deinen roten Mantel gesehen habe. Ein Vorurteil.

Er kam noch mit in deine Wohnung und ihr unterhieltet euch. Wegen der Erdölkrise war der erste von drei autofreien Sonntagen. Deshalb stand Peter kurz nach 22.°° auf, und verabschiedete sich. Es tut mir leid, aber ich muss aufbrechen, damit ich bis Mitternacht nachhause zu meinen beiden Töchtern komme. Sehen wir uns wieder?, fragtest du. Ja, aber wir können uns erst Mitte der nächsten Woche treffen, weil ich am Montag früh für drei Tage mit einem Musikprofessor, dem ich einen Plan für den Umbau seines Hauses zeichnen soll, an den Bodensee fahre. – Schade. – Der Abend war sehr schön, obwohl es etwas Mut gekostet hat, mich mit dir bei fremden Leuten zu treffen. Ich habe so etwas noch nie gemacht. – Ja, ich bin auch froh, dass der Abend so gut verlaufen ist.

Es blieb der einzige autofreie Sonntag. Trotzdem ist er noch im Gedächtnis. Die Menschen strömten mit Bussen und U-Bahnen zum Ku-Damm und tanzten auf der Straße.

Als Peter wieder in Berlin war, rief er an. Darf ich vorbeikommen? Der erste Schnee war gefallen und er brachte einen Schlitten für deine Söhne mit. Er hatte seinen Töchtern gesagt, dass er über Nacht weg bleiben würde. Neben dir auf dem Sofa, erzählte er, die Frauen nennen mich den Streichler und ich bin eher reaktiv, passiv und mache selten den Anfang. Du ließt dich gerne streicheln. Zärtliches einander Annähern, sanfter Sex, kein bisschen stürmisch. Du hattest

Frau L, der Graphologin, Peters Brief zur Begutachtung seiner Handschrift geschickt. Sie meinte, dieser Mann stellt Ansprüche, das zeigt seine große Schrift. Aber Sexualität ist für ihn etwas Alltägliches. Er selbst sagte: Ich brauche dafür nur Gefühl.

Eine Woche später spürtest du einen Juckreiz und gingst zur Frauenärztin. So peinlich es war, musstest du Peter sagen, ich habe mich bei dir mit Trichonomaden angesteckt. Die Ärztin hat wegen des Ping-Pong-Effekts auch ein Rezept für dich ausgestellt. Peter war überrascht: Ich weiß nicht, wo ich mir das geholt habe, ich hatte die letzten Monaten keine sexuellen Kontakte. Er glaubte dir und nahm die Tabletten ein.

Einen Tag nach Nikolaus war Peters 40. Geburtstag. Er holte dich ab und lud dich zur Feier des Tages in eine Pizzeria ein. Du trautest dich nicht, ihn zu fragen: Liebst du dich? und er vermied es, dieses Wort auszusprechen.

Inzwischen nahte Weihnachten wie immer mit Riesenschritten und du überlegtest, was du Peter schenken könntest. Du hattest aus dem Urlaub am Ammersee einen Handschmeichler mitgebracht, einen glatten Stein, der wunderbar in der Hand lag. Diesen Stein brachtest du zu einem Goldschmied und ließt einen silbernen Abguss anfertigen. Der Dezember war kalt, deshalb kam Peter mit seinen beiden Töchtern Weihnachten zu euch, die zentral beheizte Wohnung war wärmer als seine wunderschöne Altbauwohnung am Rüdesheimer Platz, die einer Baustelle glich und deren Zimmer mit Petroleumöfen beheizt wurden. Er schenkte deinen Söhnen ein Mikroskop. Als Nachtisch brachte er Rote Grütze und saure Sahne mit. Ob er dir das Erotikon von Toni Ungerer zu Weihnachten oder zum Geburtstag geschenkt hat, weißt du nicht mehr.

Damals gab es im ARD die ersten Talkshows, einige davon sahst du mit Peter zusammen an. Es war neu für euch und ihr regtet euch über die Reaktionen der Talk-Gäste oder der Talkmaster richtig auf. Dietmar Schönherr reagierte mal heftig, ein anderes Mal höflich und manchmal sogar beleidigt, oder er forderte die Gäste heraus, wie den Jäger, zu dem er sagte. Jagen ist Irrsinn. Wie kann denn jemand daran Gefallen finden, Tieren aufzulauern und sie ab zuknallen.

Die legendäre Begegnung von Burkhard Driest mit Romy Schneider amüsierte euch schon damals. Dietmar Schönherr wurde von Hans-Jürgen Rosenbauer abgelöst, dem kaum je ein Lächeln entkam. Peter war trotz seiner vierzig Jahre noch immer bei den Jusos: Die anderen SPDler sind mir zu verknöchert, sagte er. Ihr führtet politische Diskussionen, die nicht nur durch die Talkshows angeheizt wurden. Du warst seit September 1969 in der Elterninitiative Heinzegraben, die eine Eltern-Kind-Gruppe gegründet und im MV den zweiten Abenteuerspielplatz aufgebaut hatte.

Peter war genauso wie du von Lüschers Farbpsychologie begeistert und wendete den Lüschertest auch im Alltag an. Deshalb war er wegen deines roten Mantels voreingenommen gewesen. Du verteidigtest dich: Blau ist zwar meine Lieblingsfarbe, aber im dunklen und trübseligen Berliner Winter brauche ich etwas Farbiges. Einen grauen Mantel ertrage ich nicht. Anfang Februar legtest du ihm die Farbkarten vor, um ihn zu testen. Er lehnte Blau ab. Hatte er Angst vor einer Bindung mit dir? Du fragtest ihn. Ja, leider muss ich dir sagen, dass du nicht mein Typ bist. Du bist zwar lieb und auch keine hässliche Frau, aber ich fühle mich von dir zu wenig erotisch angezogen. Du weißt, dass ich nur Gefühl brauche, um mit einer Frau ins Bett zu gehen, dieses Gefühl für dich fehlt mir. Für mich bist du zu wenig neurotisch, weder extravagant oder kapriziös. Dir wurde so übel, als müsstest du dich übergeben. Aber wenigstens wusstest du, woran du warst und hattest keine Angst mehr, verlassen zu werden. Bald darauf schrieb Peter wieder einer Frau. Als er dich an deinem Geburtstag zum Mittagessen beim Chinesen am Ku-Damm abholte, lag ein Strauß Ranunkeln auf dem Rücksitz. Feierst du heute Abend mit mir? Nein, heute Abend habe ich keine Zeit. Eine Frau? Ja, ich treffe mich heute Abend mit einer Tante.

So schwer es dir fiel, nahmst du die Tatsache hin, dass Peter dich nicht liebte. Liebe kann nicht erzwungen werden. Das Gefühl, nicht liebenswert zu sein, riss alte Wunden auf. Peter hatte dir Janovs Buch „Der Urschrei“ über die Primärtherapie zu lesen gegeben. Das Ende der Beziehung schmerzte dich so sehr, das du in Urerlebnisse gerietst. Dadurch wurdest du für ihn wieder reizvoll, denn er fühlte sich in der Rolle des Therapeuten, wenn er dich in ein Urerlebnis, in ein Feeling, gebracht hatte. Manchmal musstest du einfach schreien und wenn du nicht weiter wusstest, riefst du ihn an und er versuchte, dich so gut es ging übers Telefon zu unterstützen. Weil du nicht gleich wieder auf Partnersuche gehen wolltest, hörtest du auf, die Pille zu nehmen. Eine Pillenpause tat gut. Außerdem war es eine finanzielle Frage, weil du die Pillen selbst bezahlen musstest. Sigrid aus dem Nachbarhaus, die als Ärztin die Pillen von den Pharmafirmen kostenlos bekam, hatte dir öfter eine Dreierpackung besorgt. Doch obwohl es ihr half, dass du ihr Nacken und Kopf massierte, wenn sie Migräne hatte, wolltest du ihre Gefälligkeit nicht zu sehr beanspruchen

Im Juni wechseltest du von der TFH an die Technische Universität Berlin. Peter traf dich dort fast jeden Mittwoch in der Mensa, die als berühmtes Werk des Brutalismus seines Chefs galt. Im Geheimen nanntest Peter deinen Mittwochsmann. Warst du von ihm fasziniert? War es die kleine Abwechslung im tristen Büroalltag oder ein Stück Erinnerung an die verlorene Heimat? Warst du masochistisch? Meist lud er seine Probleme bei dir ab. Aber er war der einzige Mensch, mit dem du über deine Primärerlebnisse reden konntest. Peter erzählte, dass er in dem Café, in dem er frühstückte, den leicht behinderten Sohn der Putzfrau mit den Lüscher-Farbkarten getestet hatte und von dem Ergebnis überrascht war. Der Café-Besitzerin hatte es gar nicht gefallen. Jemand hatte dir eine dunkle Perücke mit Pony geschenkt. An einem Schönwettertag hattest du die verwegene Idee, die Perücke aufzusetzen und inkognito – auf Peters Spuren durch Wilmersdorf zu spazieren. Als du an „seinem“ Café vorbei kamst, bestelltest eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen und beobachtetest an der freien Luft die Passanten. Du kamst dir ein bisschen verrückt vor, als stecktest du in einer fremden Haut.

Peter lebte inzwischen mit seiner neuen Freundin zusammen, die, wie er selbst zugab, ziemlich neurotisch war, aber er fühlte sich immer wieder erotisch von ihr angezogen. Es reizte ihn besonders, dass sie ihn meistens abwies, wenn er beim Nachhausekommen spielerisch versuchte, sie zu verführen. Sie setzte ohne sein Wissen die Pille ab, wurde gleich schwanger, und musste abtreiben lassen. Im Krankenhaus wollte sie sich dann aus dem Fenster stürzen, angeblich wegen der Medikamente, die sie nehmen musste. Wieder zuhause, wollte sie gleich Sex mit Peter, obwohl es eigentlich noch zu früh war. Danach bekam sie einen gefährlichen Blutsturz. Trotz der Probleme verstand sie sich gut mit Peters beiden schönen Töchtern. Dann drängte sie Peter sie zu heiraten. Mir macht es nichts aus, ihr den Gefallen zu tun, erzählte Peter. Nach der Hochzeit häuften sich die Spannungen. Peter breitete bei unseren Treffen zum Mittagessen die Dramen aus und beklagte sich: Ich finde es unmöglich, wie sie ihre alte Mutter behandelt. Sie kann ihr nichts recht machen, selbst dass sie den Kuchen links herum rührt, passt Sabine nicht. Bei einem Streit sagte sie, sie schäme sich, seinen Namen zu tragen. Aber sie hieß fast 30 Jahre wie Peter. Es blieb nicht aus, dass Sabine auf dich grundlos eifersüchtig wurde. Denn Peter blieb standhaft, obwohl du mehrmals versuchtest, ihn zu verführen. Er wollte seine Ehe nicht kampflos aufgeben, obwohl es immer mehr kriselte. Er wandte sich deshalb an Frau L., von der er durch dich wusste. Sie vermittelte zwischen den beiden und wenig später ließ Peter dir über sie mitteilen, dass seine Frau ihm die Bedingung gestellt habe, jeden Kontakt mit dir abzubrechen. Obwohl er sich an die Abmachung hielt, zogen sie wenig später in getrennte Wohnungen, blieben aber verheiratet. Die Beziehung zu Peter war für dich nie abgeschlossen, weil du immer wieder Menschen trafst, die ihn kannten. Du hattest oft von ihm geträumt, aber nie gewagt, ihn anzurufen, obwohl er seit mehreren Jahren eine U-Bahn-Station von deiner Wohnung entfernt in der Dresdener Straße seine Werkstatt und sein Büro hatte. Erst ein Jahr nach der Wende, es war Schnee gefallen, fasstest du dir ein Herz und weil du so lange mit Engelbert zusammen lebtest, wagtest du, Peter nach all den Jahren, in denen du nur über Dritte von ihm gehört hattest, anzurufen. Er klang überrascht und erfreut. Er lud dich in seine Werkstatt ein. Ihr hattet euch nach fast fünfzehn Jahren viel zu erzählen. Er fühlte sich in der Werkstatt, in der er auch wohnte, glücklich. Es war schon immer sein Traum gewesen Arbeiten und Wohnen zu vereinen. Er hatte nie etwas von den Kreuzberger Krawallen mitbekommen, weil nichts bis in den Hinterhof drang.

Ihr traft euch zweimal zum Mittagessen. In der Bibliothek der TUB hattest du Bilder ausgestellt und zeigtest ihm stolz deine Werke. Peter war von deinen Bildern angetan und sprach dir seinen Beifall aus. Dein Strich!, als Architekt achtete er besonders darauf, dein Strich ist wirklich gut. Und deine Bilder haben alle eine Aussage. Er wirkte hektisch und atmete hastig. Das kanntest du nicht an ihm. Das war im Februar. Im Mai erreichte dich die Todesanzeige. Seine schönen Töchter, beide in der Öffentlichkeit nicht unbekannt, hatten allen Leuten, deren Adressen in Peters elektronischem Telefonbuch gespeichert waren, eine Todesanzeige geschickt. Du wusstest nicht, ob sie sich noch an dich erinnerten. Warst du doch für ihre Stiefmutter und damit sie, die Frau gewesen, die ihren Vater ständig belästigt hatte. Du riefst seinen Bruder an, der bei ihm als Angestellter gearbeitet hatte und erfuhrst, Peter sei an Herzversagen gestorben. Er hatte sich nie eine Krankheit geleistet. So hatte er eine Grippe verschleppt und das Virus hatte sein Herz so geschädigt, dass sein Leben nur durch eine Herztransplantation zu retten gewesen wäre. Er war guter Dinge ins Krankenhaus gegangen, und hatte gehofft, dass die Ärzte ihm helfen könnten. Doch sein Herz war, wie ein Arzt sagte, nur noch ein alter Lappen. So ertrank er förmlich, weil sich das Wasser in der Lunge sammelte.

Doch du bist dankbar, dass Peter dir begegnet ist, obwohl sein Einfluss und die „Urschreiarbeit“ mit ihm die sprichwörtliche „Büchse der Pandora“ in dir öffnete. Denn viel von dem Schmerz, den du seit deiner Kindheit vergraben hattest, brach hervor, ein Ziehen, ein Stechen in deiner linken Körperseite unter dem Herzen, das nur langsam abnahm. Manchmal liefst aus einem Kaufhaus heraus, weil du sonst zu schreien begonnen hättest. Dieser Schmerz war Jahrzehnte dein Begleiter. Erst als du ihn als deinen Freund annahmst und nicht mehr verstecktest, lerntest du mit ihm umzugehen. (Siehe unter Sein).

Was ließ dich immer wieder nach einem Partner suchen? Im Tip, in der Zitty, der Morgenpost und im Tagesspiegel. Wenn du von einer Anzeige angesprochen warst, schriebst du darauf. Oft bekamst du keine Antwort oder eine Absage und manchmal kam es zu einem Treffen. Oft war im Lokal vor den ersten Worten schon klar, dass es keine Chance gab und du dich vergeblich auf den Weg gemacht hattest. War es blauäugig, einen Kandidaten zu besuchen oder ihn einzuladen? Das war manchmal brenzlig. Meistens konntest du der Gefahr entrinnen. Nur nicht bei dem Mann, auf dessen Anzeige im Tagesspiegel: Zärtlicher Psychologe, NR, sucht …, du im Herbst 1974 schriebst. Wohl auch Peter zu versichern, dass das zwischen euch reine Freundschaft war.

1974 – Verletzungen

Es konnte damals sein, dass du dich im Hauptgebäude der TU im Labyrinth der Gänge verliefst und an einer Telefonzelle im Erdgeschoss vorbei kamst, die du sonst tunlichst umgingst. Dieser Moment, als du am ganzen Körper zitternd in der Zelle standest, deinen Herzschlag bis zum Hals spürtest und dir die Knie fast weg knickten, war dir noch nach Jahren gegenwärtig. Jede Einzelheit stand dir glasklar vor Augen. Eine winzige Hoffnung hattest du bis zu diesem Augenblick noch gehabt. Es konnte einfach nicht sein, dass du schwanger warst. Dieser Mann hatte doch versichert, du könntest dich darauf verlassen, dass er zeugungsunfähig sei. Die Regel konnte ja einmal ausbleiben. Auch hattest du keine morgendliche Übelkeit verspürt wie bei den früheren Schwangerschaften. Du hattest zwar einen Schwangerschaftstest aus der Apotheke geholt. Dein Schreck war groß, als du nach der vorgeschrieben Wartezeit – nur das Gerät nicht erschüttern, sonst kann das Ergebnis falsch sein – in dem kleinen Spiegel sahst, dass sich in dem Glasröhrchen ein dunkler Ring gebildet hatte. Das Ergebnis konnte falsch sein, denn auch der Frauenarzt, Dr. Holm Senior, hatte dem Test wenig Bedeutung beigemessen. Er hatte dich untersucht und der MTA diktiert, die Gebärmutter ist etwas derb, und dann an dich gewendet gesagt: geben Sie bei der Schwester eine Urinprobe ab. Morgen Vormittag können Sie dann ab elf Uhr am Telefon das Ergebnis erfragen.

Abends fandest du keinen Schlaf und wälztest dich im Bett. Für dich stand fest, dass du abtreiben würdest, weil du dich den Strapazen einer dritten Schwangerschaft nicht gewachsen fühltest und auch nicht stark genug warst, das Kind auszutragen und zur Adoption freizugeben. Was würde deine Mutter sagen: Ein Kind ohne Vater? Du konntest dich nicht darauf freuen wie auf deine beiden Söhne, weil dir die Schwangerschaft hinterlistig aufgezwungen worden war. Hättest du einem Kind Liebe schenken können, das dich immer wieder daran erinnern würde, dass sein Erzeuger dich böswillig hinters Licht geführt hatte?

Diesem Kind könntest du noch weniger gerecht werden als deinen beiden anderen, die du ohne Unterhalt vom Vater alleine erzogst, und die gerade aus dem Gröbsten heraus waren. Thomas war elf und Heinz acht Jahre alt. Drei Jahre zuvor hattest du die Ausbildung als Stenokontoristin abgeschlossen, gerade im Beruf Fuß gefasst und konntest von dem Einkommen leben. Noch einmal ein Kind großzuziehen hieße, wieder zum Sozialamt gehen zu müssen oder das Kind sobald wie möglich in die Krippe zu bringen. Es bedeutete, wieder Tag und Nacht abhängig zu sein, von all dem abgesehen, was ein Baby an Arbeit machte. Früh aufstehen, zur Kita hetzen, ins Büro fahren, bei der Arbeit immer Angst haben, Tippfehler zu machen und dir eine Rüge einzuhandeln, nach dem langen Arbeitstag das Kind wieder abholen, froh sein, wenn es nicht krank wurde, denn es gab nur eine begrenzte Anzahl Tage für die Pflege eines Kleinkinds. Um den Unterhalt würdest du kämpfen müssen, weil dieser Mann die Vaterschaft abstritt, obwohl er nichts zahlen musste, da er nur eine kleine Rente bezog. Nein, du konntest dir nicht vorstellen, dieses Kind zu behalten.

Als du in der Praxis anriefst, stellte dich die MTA zum Doktor durch. Sie sind schwanger. Der Test ist positiv. Positiv, dir war klar, was das bedeutete. Weil deine Entscheidung fest stand, vereinbartest du einen Termin für den nächsten Tag, bevor du den Hörer, der dir fast aus der Hand gerutscht war, zitternd wieder auf die Gabel hängtest.

Von dieser engen Zelle aus hattest du noch nie telefoniert. Weil in dem Büro im 4. Stock die Kollegin mithören konnte, hattest du den Geldbeutel eingesteckt, gefragt: Soll ich Ihnen etwas aus der Bulettenschmiede mitbringen?, und warst mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss gefahren. Nur nichts anmerken lassen. Auf dem Rückweg von der Telefonzelle holtest du dir eine belegte Schrippe und für die Kollegin ihr unverzichtbares Mittagessen: Ein Paar Wiener Würstchen mit einer Schrippe und Senf.

Dabei war die kurze Liebschaft schon vorbei. Warum hattest du deinem Bauchgefühl nicht vertraut. Gegen besseres Wissen hattest du dir eingeredet: Ich kann doch gegenüber einem Mann, der als Halbjude verfolgt wurde, keine Vorurteile haben. Er ist doch ganz nett und verdient Mitgefühl. Außerdem birst du schon einige Male ins Fettnäpfchen getreten, wenn du einen Mann abgewiesen hast.

Es war nicht das erste Mal, dass du auf eine Anzeige geschrieben hast und dabei nicht nur gute Erfahrungen machtest, aber manchen außergewöhnlichen Mann kennen lerntest. Wie ein Jahr vorher Peter, den Architekten.

Die Annonce im Tagesspiegel hatte Vertrauen erweckend geklungen: Zärtlicher Psychologe, Nichtraucher; 42, 1,86, sucht … – Du hattest einen netten Brief mit verschlüsselter Telefonnummer geschrieben. Der Mann rief am Vormittag an, als Thomas zufällig allein in der Wohnung war. Als allein erziehende berufstätige Mutter arbeitetest du tagsüber im Büro. Abends kam dann der zweite Anruf: Ich war so davon fasziniert, wie Sie Ihre Telefonnummer verschlüsselt haben. Dann habe ich aber doch im Telefonbuch nachgeschlagen. Er nannte dir seine Adresse und Telefonnummer. Nach kurzem Geplauder fragte er, ich würde gerne zu Ihnen kommen, darf ich Sie am Freitagabend besuchen? – Ja, und wann? – Am besten gegen acht Uhr.

Du hattest keine Bedenken, denn deine Söhne waren ja da.

Am Freitag vom Büro heimgekehrt, gingst du noch einmal mit dem Staubsauger durch die Räume und warfst einen kritischen Blick in die Küche. Fast Punkt acht klingelte es. Du drücktest auf den Türöffner und die Taste für die Sprechanlage: Sie müssen im 11. Stock aus dem Aufzug steigen. In der Wohnungstür stand ein stattlicher Mann, der den Türrahmen fast ausfüllte. Er sah Henry Kissinger ähnlich, sein von einigen grauen Fäden durchzogenes lockiges Haar war kurz geschnitten. Du fühltest dich verlegen, als du ihm die Hand gabst. Als er seinen dunklen Mantel an die Garderobe gehängt hatte, kamen ein Feinstrick-Pullover, aus dem der Hemdkragen hervor lugte, und eine Anzughose zum Vorschein. Dieser Mann war so gar nicht dein Typ. Die Männer und Frauen in der Elterninitiativ-Gruppe waren eher lässig gekleidet, wenn es keinen offiziellen Anlass gab.

Du führtest ihn ins Wohnzimmer, wo Thomas und Heinz den Fremden begrüßten, und erst im Bad und danach in ihren Zimmern verschwanden. Der Mann musterte das Berliner Zimmer, das als spiegelverkehrtes L genau so geschnitten war wie in Hunderten von Wohnungen in den Unger-Bauten. An den beiden Enden des L war es von Balkonen begrenzt. Drei Wände waren weiß gestrichen, eine blau. Vermisste er eine Schrankwand? In dem selbst gebauten dunkelblauen großen Regal waren Bücher und andere Gegenstände nicht gerade ordentlich aufgereiht. Esstisch, Eckbank und Stühle hattest du einer Frau abgekauft, die unkonventioneller wohnen wollte und aus dem stereotypen Wohnblock in eine Altbauwohnung in der Stadt gezogen war. An der taubenblauen Wand hing ein Poster mit der goldenen Maske von Tut Ench Amun über dem Sideboard, das wie das braune Ecksofa mit den Kordsamtkissen und dem niedrigen Tisch aus dem Möbelhaus stammte. Die Balkonfenster waren mit grau-gelb-orange-weiß gemusterten Rollos gegen neugierige Blicke geschützt.

Du batst ihn, setzen Sie sich doch. Er nahm Platz und du ließt dich mit kleinem Abstand daneben nieder. Er hatte eine Flasche Rotwein mitgebracht und auf den Couchtisch gestellt. Du holtest einen Korkenzieher und Gläser: Zum Wohl. War es ein teurer Wein oder ein billiger? Jedenfalls schmeckte der Wein und sicher wollte auch dein Gast nichts Schlechtes trinken.

Er erzählte: Mein Vater war ein Jude, deswegen bin ich im Dritten Reich in der Schule als Heranwachsender jeden Tag von den anderen Schülern verprügelt oder zusammen geschlagen worden.

Weil Thomas auch manchmal in der Schule der Prügelknabe war, konntest du Verständnis und Mitgefühl zeigen.

Mein Studium konnte ich nicht abschließen, weil mein Vater während der Studienzeit gestorben ist. Deshalb bin ich kein fertiger Diplom-Psychologe. Ich betreue aber ab und zu in der Praxis eines Psychiaters einen Jungen psychologisch-analytisch.

Er gab sich professionell, holte eine Taschenlampe aus der Hosentasche und leuchtete mit dem Lichtstrahl in deine Augen.

An Ihren Augen ist zu sehen, dass Sie nicht mehr ganz jung sind. Woraus schließen Sie das? Nun ja, weil Ihre Pupillen sich nur geringfügig verkleinert haben.

Du versuchtest die Plauderei in Gang zu halten und erzähltest einiges von dir. Er ging wenig darauf ein und sprach lieber von sich und seinen Erlebnissen. Meine Mutter und meine jüngere Schwester, die nach dem Krieg geboren wurde, wohnen in unserem eigenen Haus in Zehlendorf. Meine Schwester schreibt auch auf Anzeigen, weil es schwierig ist, den richtigen Mann zu finden.
Er tat dir ein bisschen leid. – Und weswegen haben Sie das Inserat aufgegeben?

Weil ich wieder eine Frau suche. Ich bin schon zu zweiten Mal geschieden. Vor 15 Jahren bin ich mit meiner Frau nach Westdeutschland gezogen und habe mit ihr im Harz eine Pension aufgemacht. Sie will nichts mehr von mir wissen. Auch meine Tochter darf ich nicht sehen. Die ist fast achtzehn. Ich bin aber jetzt zeugungsunfähig.

Wirklich?

Ja, ich habe mich untersuchen lassen. Dabei wurde erwiesen, dass ich keine lebensfähigen Spermien mehr produziere.

Er versuchte sich möglichst sympathisch darzustellen, auch wenn er dauernd redete und du als Zuhörerin mitunter Interesse heucheln musstest, während deine Augen zu dem Bild von Tut Ench Amun abschweiften.

Ab und zu warfst du einen Satz ein, aber er hörte sich zu gern reden. Als Zwölfjähriger wurde ich nach Schweden verschickt und durfte bis nach Kriegsende bleiben. Dort hat mich eine Vierzehnjährige verführt. Die war vielleicht keck. Jetzt arbeite ich für den schwedischen Geheimdienst und verdiene etwas Geld damit. Deshalb habe ich eine Geheimnummer. Darf ich kurz Ihr Telefon benutzen? Ich muss mit dem schwedischen Agenten reden, ob er einen Auftrag für mich hat. Er ging zum Telefon, das auf der Fensterbank stand, nahm den Hörer ab und drehte die Wählscheibe. Dann sprach er auf jemandem ein, der angeblich am anderen Ende der Leitung war. Da du seine Worte nicht verstandest, wusstest du nicht, ob er wirklich Schwedisch redete.

Obwohl dich das Verhalten meines Gastes ein wenig befremdete, folgtest du gespannt seinen Worten. Kenntestost du ihm glauben? Der Mann machte einen ehrlichen Eindruck. Sie schaute einem Mann zuerst in die Augen und dann auf die Hände. Seine Finger waren lang und schlank, die Nägel gepflegt, das sprach dich an. Auch seine Stimme schob deine Bedenken beiseite und du trankst mit ihm Brüderschaft. An das, was du bei dem Kuss fühltest, kannst du dich nicht mehr erinnern. Es war wohl nur ein Aufeinandertreffen feuchter Lippen. Als der Wein ausgetrunken war, fragte er: Es ist schon so spät, soll ich mich wirklich mitten in der Nacht auf den weiten Weg mit dem Bus und mit der U-Bahn nachhause machen? Kann ich nicht hier schlafen? Du fürchtetest, er würde böse werden, wenn du nein sagtest. So landetet ihr schließlich im Schlafzimmer, in dem noch immer das Doppelbett den meisten Platz einnahm, und in dem zwei Menschen bequem schlafen konnten. Jeder auf seiner Seite. Doch dir war klar, dass du in der Falle saßt, weil ein Mann, der eine Frau in ihrer Wohnung besuchte und sogar über Nacht bleiben durfte, erwartete, dass unmittelbar das folgen musste, was ‚miteinander schlafen‘ genannt wird.

Werner zog sich aus. Er trug weiße Feinrippwäsche Marke Schießer.. Er war kräftig, weder dick noch schlank: Ich war und bin kein so magerer Typ. Ein bisschen was muss man doch auf den Rippen haben, verteidigte er sich. Warum ließt du dich auf diesen wenig erotischen Mann ein? Du warst eine Frau, die Sex liebte und dein Köper hungerte danach, wieder einen Mann zu spüen. Warum nicht? Bei der Selbstliebe spürtest du zwar Lust, aber es machte dich meist traurig. Du sagtest, dass du seit einem halben Jahr die Antibabypille nicht mehr nahmst, warst aber beruhigt, als er erneut versicherte, er sei zeugungsunfähig. Er sprach nie von Impotenz, weil das mit Nicht-Können gleich gesetzt wurde. Seine Zärtlichkeit beschränkte sich auf ein kurzes Streicheln. Er war kein schlechter Liebhaber und mühte sich an der Klitoris bis zum Höhepunkt ab.

Am Morgen schaute er nach dem Aufstehen unters Bett. Als er dort Wollmäuse entdeckte, regte er sich auf. Nein, wie kannst du nur Wollmäuse unterm Bett haben, das ist unhygienisch. Dann meinte er: Ich habe Angst, dass ich deine sexuellen Bedürfnisse nicht erfüllen kann. Du brauchst so viel.

Am Vormittag wolltet ihr zusammen einkaufen gehen. Du bandst das beige-braune Kopftuch um. Das gefällt mir, meinte er anerkennend, du siehst damit wie eine Schwedin aus.

Der Weg ins Einkaufszentrum führte über den Abenteuerspielplatz, den man von der Essecke aus sah. Du stelltest deiner Freundin Tutti deinen Gast vor. Einige Tage später meinte sie: Er sieht ziemlich konservativ, fast ein bisschen spießig aus. Aber ich finde ihn ganz nett. Meist kann man vom Aussehen auf die innere Einstellung schließen. Aber das muss ja nicht so sein.

Vom Markt zurückgekehrt, bereitete ich das Mittagessen zu. Werner machte keine Anstalten heimzufahren. Als er außer Hörweite war, äußerte Thomas seine Befürchtung: pass auf, der will sich bei uns einnisten. Erst am späten Nachmittag brach Werner endlich auf.

Ihr hattet verabredet, dass er dich eine Woche später wieder besuchen wollte. Der Freitagabend kam und du meintest jeden Augenblick die Türklingel läuten zu hören. Statt dessen schellte das Telefon. Werner war am Apparat. Ich traue mich nicht auf die Straße, Holger Meins ist gestorben, da ist in der ganzen Stadt die Hölle los mit der gesamten Bader-Meinhoff-Bande. Als das Gespräch länger dauerte, wurde Heinz ungeduldig und fing an zu quengeln. Das wurde Werner zu viel: Warum hast du mich denn angerufen, wenn du keine Zeit für mich hast? – Ich? Hast du vergessen, dass du angerufen hast, weil du nicht kommst?

Über Buß- und Bettag kam Horsts Vater nach Berlin und du holtest ihn vom Flughafen Tempelhof ab. Werner fühlte sich vernachlässigt, weil du keine Zeit für ihn hattest. Inzwischen hatte er zugegeben, dass er dir eine falsche Adresse genannt hatte und rechtfertigte sich, ich bin vorsichtig, bevor ich jemandem die richtige Anschrift gebe. Einige Jahre später war sein Name nicht auf dem Klingelbrett des besagten Hauses zu finden. Die angeblich richtige Adresse?

Bei der Kollegin war Werner unangenehm aufgefallen. In Frau Stadlers Stimme klang neben Verwunderung Missbilligung mit, als sie erzählte, ein Herr Sowieso hat angerufen. Er hat sich lang und breit darüber beklagt, er hätte ja so ein Pech, dass er Sie nicht im Büro erreichen konnte.

Als Werner dich wieder besuchte, brachte er außer einer Flasche Rotwein einen Korkenzieher mit, der eine knorrigen Rebwurzel als Handgriff hatte. Er erwartete, dass ich über sein Geschenk in Begeisterung ausbrach. Die Hand tat einem aber weh, wenn man eine Weinflasche entkorkte. Noch eine gemeinsame Nacht, doch langsam verflachte die gegenseitige Anziehung. Er war von Heinz genervt und du musstest dir eingestehen, dass er kein Partner für dich war. Er erzählte seine Geschichten in immer neuen Versionen und fand stets stichhaltige Erklärungen, wenn er nur die halbe Wahrheit gesagt hatte. Das ist jetzt wirklich keine Lüge, das stimmt! beteuerte er. Dein Ex-Mann hatte es auch mit der Wahrheit nicht sehr genau genommen und seine eigenen Lügen geglaubt. Das wolltest du dir nicht noch einmal antun. So versandete die Beziehung Anfang Dezember. Da war das Kind buchstäblich schon in den Brunnen gefallen, denn anscheinend warst du schon in der ersten Nacht schwanger geworden.

Lisa eine Erzieherin auf dem Abenteuerspielplatz, hatte dir einen Frauenarzt empfohlen. Sie hatte erzählt, dass Dr. Holm Senior ihren Sohn in ihrer Wohnung entbunden hatte, was damals noch selten geschah. Er hat seinen Wagen einfach vor die Haustür gestellt. Dr. Holm Senior hilft Frauen, die ungewollt schwanger geworden sind, aus der Bedrängnis.

Doch im Sprechzimmer saß sein Sohn hinter dem Schreibtisch. Du warst völlig verdutzt, als er dir eine Standpauke hielt. Das kann ja jede Frau sagen, sie sei reingelegt worden. Warum waren Sie so verantwortungslos? Diese Frauen. Und dann muss der Arzt helfen. Das Abtreibungsrecht in Berlin war liberaler als anderswo, die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche überstieg die Zahl der Geburten. Aber jede Frau musste vorher zur Ärztekammer und zu zwei Gutachtern, um sich die Abtreibung genehmigen zu lassen. Dr. Holm schrieb auf das Antragsformular: Angeblich wurde Frau S. von einem Mann schwanger, der behauptet hatte, er sei zeugungsunfähig.

Froh, dich von Werner getrennt zu haben, hattest du gehofft, dass er aus deinem Leben verschwunden sei. Nun hatte das Ganze ein unangenehmes Nachspiel bekommen und du wolltest ihm deine Wut und deinen Ärger über seine Unverschämtheit und Unverfrorenheit ins Gesicht sagen. Deshalb riefst du noch am Abend als du das Ergebnis des Tests erfahren hattest. Er lallte: Entschuldige, ich habe schwere Medikamente genommen. Als du ihn einen Tag später wieder am Telefon hattest, beschuldigte er dich: Wer weiß, wo du rum gefickt hast. Dabei spielte er nicht nur auf den Besuch meines Schwiegervaters an. Bei einem anderen Telefongespräch drohte er sogar: Ich habe mit meinem Anwalt gesprochen, ob wir eine Klage gegen dich wegen Verleumdung einreichen sollen. Du kannst nicht von dir schwanger sein, weil ich zeugungsunfähig bin. Im Laufe des Gesprächs meinte er hämisch: Ich hatte Kondome in meiner Manteltasche, als ich dich das erste Mal besucht habe. Aber ich nehme sie nur, um mich vor Ansteckung zu schützen, heutzutage ist eine Frau selbst verantwortlich und hat die Pille zu nehmen. Plötzlich verfiel er in Schmeicheleien: Weil ich sicher war, dass du eine saubere Frau bist, habe ich kein Kondom genommen. Du warst sprachlos. Es war, wie gegen eine Gummiwand z rennen. Wie konnte ein Mann eine Frau so unverschämt und gemein behandeln.

Ende dreißig war mit zwei Kindern, wolltest du dich bei der Abtreibung sterilisieren lassen, um nie mehr die Pille schlucken und bezahlen zu müssen. Dr. Holm befürwortete den Entschluss, aber eine Sterilisation musste ebenfalls von Gutachtern befürwortet und von der Ärztekammer genehmigt werden.

etzt begann die Lauferei. Weihnachten stand vor der Tür und ein Abbruch war nur bis zur zehnten Woche legal, deshalb war Eile geboten. Erst musstest du zu der zwei U-Bahnstationen von der Universität entfernt liegenden Ärztekammer fahren. Weil dort die gleichen Bürozeiten wie in der Dienststelle galten, erfandest du eine Ausrede. Du musstest dich nun selbst hinter Lügen verschanzen. Wenige Tage später erhieltst du ein Schreiben mit den Adressen zweier Gutachter. Du bekamst für den nächsten Nachmittag einen Termin bei dem Leiter der Tagesklinik in der Kastanienallee. Wieder musstest du eine Ausflucht erfinden. Der dunkelhaarige Arzt, nur wenige Jahre jünger als du, begegnete dir zuvorkommend und verständnisvoll, legte dir aber in den Mund, dass du sagen solltest, Selbstmord zu begehen, wenn die Abtreibung nicht genehmigt würde. (Später stand in der Presse, dass diese Aussage für manche Frauen ein böses Nachspiel hatte, wenn sie sich als Beamtinnen bewarben.) Bevor sich der freundliche Arzt von dir verabschiedete, bat er, können Sie mich anrufen, wenn alles vorbei ist, und sagen, wie es Ihnen geht? Es wird immer behauptet, dass Frauen, die abtreiben, depressiv werden. Deshalb sammle ich Aussagen von Frauen, die nach der Abtreibung erleichtert sind.

Der zweite Gutachter war Hautarzt, er bestellte dich einen Tag später für 19.30 Uhr in seine Praxis am Ku-Damm. Weil du beim Umsteigen jedes mal sofort Anschluss bekamst, standest du eine halbe Stunde zu früh vor der Arztpraxis. Der regnerische dunkle Dezemberabend lud nicht zu einem Schaufensterbummel ein. Klingeln oder vor der Tür warten? Der Arzt öffnete ungehalten: Sie sind viel zu früh dran. 19.30 Uhr hatte ich gesagt. Aber gehen Sie ins Wartezimmer, bis ich Sie rufe! Im Sprechzimmer begann eine peinliche Ausfragerei. Weshalb, warum, wann und wie? Bitte öffnen Sie einen Knopf Ihrer Bluse. Einen habe ich gesagt, nicht zwei. Und jetzt schließen Sie die Knöpfe wieder. So unfreundlich, wie sich der Arzt dir gegenüber verhielt, musste er entweder streng katholisch oder schwul sein. Warum schrieb er dann Gutachten für Abtreibungen? Etwa nur, um etwas nebenbei zu verdienen? Als der Antrag unterschrieben war, kamst du dir wie eine Missetäterin vor. Die unantastbaren Würde des ungeborenen Lebens wird beschworen, aber was ist mit der Würde der Frauen, die den Weg durch die Institutionen machen müssen.

Diese ganzen Aufregungen und Laufereien kurz vor Weihnachten würdest du deiner schlimmsten Feindin nicht wünschen. Dr. Holm sen. wollte den Eingriff nach den Feiertagen in einer Belegklinik vornehmen. So schobst du die Sorgen beiseite, und fuhrst zu Tutti, um Weihnachten feiern.In der U-Bahn herrschte dich eine Frau an: Sie stehen auf und machen den Platz für meinen behinderten Mann. Du wagtest nicht zu sagen, dass du nicht aufstehen wolltest, weil du schwanger warst? Du deutetest mutig auf die Frau neben dir, warum denn gerade ich? Diese Frau kann doch genauso gut aufstehen.

Du warst ziemlich nervös und kein angenehmer Gast, weil du immer wieder daran denken musstest, welche Prozedur dich Anfang Januar erwartete. Tutti erzählte dir später, dass ihr Freund, der nichts von der Schwangerschaft wusste, sich über dich beschwert hatte: Deine Freundin hat dauernd geredet und wollte zu viel Aufmerksamkeit.

Anfang Januar fuhrst du nachmittags mit der U-Bahn in die Belegklinik in der Fuggerstraße. Als dann am nächsten Vormittag alles vorbei war und du langsam aus der Narkose erwachtest, warst du ziemlich schwach, doch spürtest du mehr als Erleichterung, eine Art Freiheit. Nie mehr ungewollt schwanger werden.Der lange Alptraum war vorbei. Der Arzt war fast liebevoll um dich besorgt. Keine Beschuldigungen oder vorwurfsvolle Andeutungen. Er kam jeden Tag zur Visite, sogar am Wochenende. Er erklärte dir: Ich habe eine Minisektio gemacht, einen kleinen Bauchschnitt. Sie haben rötliche Haare und ich hatte Angst, Sie verlieren zu viel Blut. Dass du ein Vorderwand-Myom hattest und sich deshalb unter der Operationsnaht Blut gestaut hatte, erfuhrst du erst ein Jahr später. Als der Arzt nach drei Tagen eine Sonde anlegte, floss schwarzes Blut in eine Nierenschale. Blutzoll.

Mit einer älteren und einer jüngeren Frau zusammen in dem engen Krankenzimmer, verstrichen die Tage nur langsam. Die jüngere ließ schon zum dritten Mal eine Schwangerschaft abbrechen. Sie erzählte: Als der Arzt mir ins Gewissen redete und sagte, welche Folgen wiederholte Abtreibungen haben könnten, habe ich ihm versprochen: ich nehme von nun an regelmäßig die Pille, damit ich nicht wieder hier lande.Nach ihr kam eine neue Patientin, Ende vierzig. Ihr wurde ein versteinerter Fötus heraus genommen.

Das Klinikgebäude grenzte an eine Hauptschule. Wenn die Schüler in der Pause auf dem Schulhof herumtobten, drang der Lärm bis in die Krankenzimmer. Doch nach einer Viertelstunde war der Spuk vorbei, als würde ein Wasserhahn abgedreht oder Motor abgestellt.

Allzu viel Besuch bekamst du nicht. Peter besuchte dich, auch einige andere Bekannte und Freundinnen kamen vorbei. Deine Kinder besuchten dich nicht, und den Arbeitskolleginnen hattest du verschwiegen, in welcher Klinik du lagst. In der Dienststelle reichtest du die Krankschreibung mit einer Ausrede ein. Wieder im Büro, deutete deine Kollegin an, dass sie den wirklichen Grund für den Klinikaufenthalt wusste.

Werner war so dreist gewesen, dich Weihnachten anzurufen und dir ein frohes Fest zu wünschen. Er war in der Wohnung einer Frau, angeblich einer Akademikerin, die er über eine neue Anzeige kennen gelernt hatte und bei er die Feiertage verbrachte. Als du dann Mitte Januar aus der Klinik entlassen warst, rief er noch einmal an und äußerte sein Bedauern, es tut mir so leid, dass du in Lebensgefahr geraten bist, behauptete aber im selben Satz, wenn das Kind von mir gewesen wäre, hättest du nicht abtreiben lassen.

Dieser Mann glaubte seine Lügen. Er hatte inzwischen zugegeben, dass er wegen einer schweren Neurose in der psychiatrischen Praxis in Behandlung war, in der er angeblich einen Jungen psychologisch-analytisch betreute. Sein Vater war erst zehn Jahre tot, nicht schon gestorben, als sein Sohn noch studierte. Im Telefonbuch standen noch Name und Adresse seines Vaters.

Du wolltest diesen schrecklichen Korkenzieher loswerden. In den Müll werfen? Nein, lieber nicht. Deshalb stecktest du ihn in einen Umschlag, an Werners Vater adressiert. Ein wütender Anruf: Wie geschmacklos, etwas an einen Toten zu schicken, empörte sich Werner Das habe ich nur getan, weil ich weiß, dass diese Adresse stimmt, wer weiß, ob derer Brief vielleicht zurück gekommen wäre . Bissig setztest du hinzu: woher sollte ich wissen, ob deine Adresse stimmt? Du hast schon so viele Lügen erzählt.

Da habe ich nun die Weinflaschen durch die halbe Stadt zu dir ins Märkische Viertel geschleppt! beschwerte er sich. – Es waren nur zwei Flaschen und ich hatte dich nicht gebeten, Wein mitzubringen!.

Er hatte einige von einem Profi gemachten Fotos von dir, du fordertest sie zurück. Als du die Fotos aus dem DIN-A 5 Umschlag genommen hattest, merktest du, dass von einem Bild der Rand beschnitten war, weil der Umschlag nicht groß genug war. Er behauptete: Du bildest dir etwas ein. Dabei war deutlich zu sehen, wo die Schere abgerutscht war.

Du zogst einen Schlussstrich, wolltest nie mehr mit Werner reden und dich von ihm beleidigen lassen. Du hattest eine riesige Wut auf diesen zärtlichen Psychologen, dieses Unschuldslamm, hinter dessen biederer Fassade sich ein Psychopath versteckte, der die Frauen hasste, der aber nicht auf Sex verzichten wollte. Am meisten ärgerte dich, wie naiv und gutgläubig du gewesen warst.

Werner setzte ungefähr jeden Monat eine Anzeige mit dem gleichen Text in den Tagesspiegel. Anscheinend fielen immer wieder Frauen auf ihn herein. Du wolltest ihm das Handwerk legen und riefst in der Reaktion des Tagesspiegel an. Darauf nehmen wir keinen Einfluss, antwortete der Redakteur, dafür ist die Anzeigenabteilung nicht verantwortlich, jede Frau muss selbst wissen, was passiert, wenn sie sich auf einen Mann einlässt. Als er hörte, mit welchen Mitteln Werner arbeitete, versprach der Redakteur, Werners Anzeigen nicht mehr in der Zeitung zu veröffentlichen. Er hielt Wort.

Es bereitete dir Genugtuung, dich an dem Mann zu rächen, auch wenn das, was du ihm antatst, nur ein winziges Trostpflaster für die Narbe war, die noch heute deinen Bauch verunstaltet. Damals kostete jedes Ortsgespräch, egal wie lange es dauerte, 20 Pfennige. Welch diebische Freude, ihn abends oder nachts von einer Telefonzelle aus anzurufen und den Hörer hängen zu lassen, auch wenn es einen Groschen mehr kostete. Dadurch war sein Telefon lahmgelegt, bis zufällig jemand kam, der anrufen wollte. Du riefst auch vom Büro deines Chefs aus an, wenn er nicht da war und legtest den Hörer nicht auf. Es half ihm nichts, eine Fangschaltung einzurichten, denn immer, wenn er die Nummer wählte, war entweder niemand am Apparat oder dein Chef meldete sich. Manchmal klingelte zuhause dein Telefon, ohne dass sich jemand meldete. War er es? Nach einigen Sekunden konntest du hören, wie der Hörer aufgelegt wurde.

Du fühltest dich erleichtert, dass du dich für die Abtreibung entschieden hattest. Dein Lebensweg wäre völlig anders verlaufen, wenn du das Kind behalten hättesst. Doch die Demütigungen und die Verletzungen, die du erlitten hatte, taten noch lange weh. Du bekamst keine Depressionen, aber du fühltest eine gewisse Kälte, wenn du an diesen Mann und an die Abtreibung dachtest. Als dir ein Jahr später der Arzt, den du wegen der starken monatlichen Blutungen aufsuchtest, mitteilte, dass du ein Vorderwand-Myom in der Gebärmutter hast, fragtest du dich, ob es nicht auch ohne Abtreibung gegangen wäre. Vielleicht hätte du das Kind ja verloren, wie es sich viele ungewollt schwangeren Frauen wünschten. Doch hättest du dich einfach so sterilisieren lassen können?

Nun gehörtest du zu der Schar Frauen, die abgetrieben hatten; jetzt hättest du bei der Sternkampagne unterschreiben können: Ich habe abgetrieben, wie viele prominente Frauen es getan hatten. Als damals im Einkaufszentrum die Frauen hinter ihrem Tisch um deine Unterschrift baten, warst du stolz gewesen nicht zu ihnen zu gehören. Ich kann doch nicht unterschreiben, ich hätte abgetrieben, wenn ich es nicht getan habe. Ehrlicher Weise musstest du zugeben, dass du die Frauen verurteiltest. Warum verhüteten sie nicht? Du hattest, ohne dass deine Mutter es wusste und missbilligen konnte, auch nicht wie eine Nonne gelebt, aber immer verhütet.

Einige Jahre später nahmst du in einer Selbsthilfegruppe Abschied von dem ungeborenen Kind, das schemenhaft für dich geblieben war, und erlaubtest dir, deine ganze Wut noch einmal zu fühlen.