UNVERGESSEN oder NEU ENTDECKT

Frances Glessner Lee

 

Geboren am 25. März 1878 in Chicago

 

Ihr Vater ist Gesellschafter einer Landmaschinenfirma, daher wächst Frances in wohlhabender Umgebung auf. Sie wird wie ihr Bruder zu Hause unterrichtet. Ihr Bruder studiert Medizin in Harvard, ihr selbst ist kein Studium gestattet. Sie heiratet im Alter von 19 Jahren den 11 Jahre älteren Anwalt Bewett Lee. Offenbar von den Eltern arrangiert, so gehörte sich das für die jungen Frauen aus gehobenen Kreisen, keine Liebesheirat. Sie wird drei Kinder gebähren und sich 16 Jahre später scheiden lassen. Soviel dazu.

Klein-Frances

 

gute Kinderstube: Vater, Bruder, Frances, Mutter

Ihr Interesse an Forensik erwacht

Durch einen Kommilitonen ihres Bruders George, der Rechtsmediziner werden will, entwickelt sie ein Interesse für Forensik. Neben ihren autodidaktischen Studien – sie liest Unmengen und wird später ihre über 1000 Fachbücher der Hochschule spenden – sammelt sie als freiwillige Polizeihelferin praktische Ermittlungserfahrungen. Dabei kann Glessner Lee nicht nur die fachmännische Aufklärungsarbeit von Kriminalfällen beobachten – sondern auch, wie oft Verbrechen ungeklärt bleiben, weil Polizisten Beweisstücke falsch untersuchten oder Morde für Unfälle hielten. 

 

junge Frau mit ungewöhnlichem „Hobby“

Frances erkennt bald, dass die Polizei unbedingt verlässlichere Forensiker braucht, die eine wissenschaftlichen Standards genügende Ausbildung durchlaufen hatten.

Für ihren unbändigen kreativen Drang, mit dem sie früher nur auf das Unverständnis ihres Ex-Mannes gestoßen war und sich so von ihm entfremdet hatte, findet sie schließlich ein Ventil. Sie ist überzeugt: Könnte man jungen Rechtsmedizinern und Polizisten beibringen, jedes noch so winzige Detail eines Tatorts genau zu erfassen und präzise wissenschaftlich zu analysieren, würde die Wahrheit wie in einer verdichteten Miniatur des Geschehens – nach englischer Redensart „in a nutshell“ („in einer Nussschale“) – sichtbar werden.

inzwischen berühmt

Gründung eines Fachbereichs

Als ihr Bruder früh verstirbt und sie nach dem Tod der Eltern Alleinerbin des Millionenvermögens ist, gründet Frances die Abteilung für Rechtsmedizin an der Harvard Medical School sowie die Havard Associates in Police Science. 

Um den Unterricht anschaulich zu gestalten, fertigt sie Miniaturdioramen von Tatorten ungeklärter Morde an. Dabei arbeitet sie mit großer Detailtreue die für die Untersuchungen relevanten Spuren ein. Den Lehrgangsteilnehmern räumt sie damals 90 Minuten Zeit ein, um den „Tatort“ zu untersuchen.

 

Puppenstuben? Tatorte!

Auf den ersten Blick ist das Grauen leicht zu übersehen. Zu leicht bleiben die Augen des ungeschulten Betrachters an all den liebevollen Details der winzigen Puppenhäuschen hängen: den handgemalten Blumen im Muster der Tapeten. Den selbstgenähten Rüschengardinen, den gestrickten Socken, mit wenige Millimeter langen Wäscheklammern zum Trocknen aufgehängt. Man staunt über die nicht mal zentimetergroßen Bierflaschen mit mikroskopisch kleinen Etiketten und über den handgemalten Wandkalender des Jahres 1944, dessen Tage sich nur mit der Lupe erkennen lassen.

Dann erst fällt einem das Blut auf.

Die Spritzer an der Tapete des Schlafzimmers. Die besudelte Matratze, auf der reglos eine Frau im Nachthemd liegt. Der blutgetränkte Pyjama ihres Gatten neben ihr. Und die kleinen Flecken, wie von winzigen Füßen hinterlassen, die sich von seiner Leiche aus quer durch die Wohnung ziehen – durch das Schlafzimmer, das Wohnzimmer, an umgestürzten Möbeln vorbei über Teppich und Fliesen bis hin zum Kinderzimmer. Hier enden sie in einer Lache am Fuß der Wiege, in der neben einem rotverschmierten Kuscheltier eine kleine Babypuppe liegt.

Jedes Modell kostet damals zwischen 3000 und 4500 Dollar in der Herstellung und basiert auf realen Tatorten und Autopsien. Komplette Kleidungssätze für jedes Opfer. Türen und Kommoden lassen sich öffnen, Korken können aus Flaschen gezogen werden, selbst Gürtelschnallen funktionieren. Für Blutspritzer verwendet Lee roten Nagellack. Um Leichenflecken oder Auswirkungen von Kohlenmonoxid zu zeigen, bemalt sie die Porzellanhaut der Puppen.

Die 19 alten Puppenstuben, die heute im Gerichtsmedizinischen Institut von Baltimore in schützenden Glaskästen ausgestellt sind, wirken auf den ersten Blick zutiefst verstörend. Doch mit derem Hilfe wird in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Gerichtsmedizin revolutioniert.

jedes Detail ist wichtig

Jahrzehntelang lassen Harvard-Studenten ihre Blicke über blutverschmierte Miniatur-Wäschekörbe wandern, analysieren die Todesursache im Dachgebälk erhängter Plastikfiguren oder betrachten die Schnittwunde an der Kehle einer Prostituierten-Puppe – mit großem Erfolg. Von „unschätzbarem Wert“ seien die Dioramen für den Unterricht gewesen, lobte Marylands Oberster Gerichtsmediziner John Smialek 1992 in der „American Medical News“: „Heute können wir Videos aufnehmen. Damals gab es keine andere Weise, einen Tatort so nachzubilden, dass er auf standardisierte Weise ausgewertet werden kann.“

 

Erster weiblicher Police Captain

Als einzige Frau unter 40 Männern leitet Frances Lee die Seminare des ersten Forensik-Studiengangs an der Harvard University, den sie selbst aufgebaut und  finanziert hat. Dabei bleibt sie immer eine Dame der Gesellschaft. Sie gibt Bankette für die teilnehmenden Detektive und Gerichtsmediziner, beaufsichtigt persönlich aufwendige Menüs, Blumenarrangements und Tischdekorationen.

1943 ernennt New Hampshire sie zum State Police Captain und machte sie damit zur ersten weiblichen State Police Captain des Landes.

 

posthum

Erle Stanley Gardner (1889-1970), der Autor der Detektivbücher um die Hauptperson Perry Mason, war ein begeisterter Bewunderer von Frances Glessner Lee. Er stand in regem Austausch mit ihr und schrieb ihren Nekrolog im Boston Globe.

Nach ihrem Tod stellte die Universität von Harvard den von ihr initiierten Studiengang zunächst ein. Die Miniaturdioramen wurden von einem Professor gerettet, wieder hergerichtet und für die Ausbildung der Polizei in Maryland eingesetzt. Sie sind bis heute ein Ausbildungsobjekt für Kriminologen und gelten in ihrer Detailtreue als unübertroffen selbst im Vergleich zu virtuellen Simulationen.

Frances Glessner Lee gilt als Vorbild der Jessice Fletcher in Mord ist ihr Hobby.

Der Familiensitz, das „Glessner House“, in dem Frances aufwuchs, ist heute ein Museum und kann für Veranstaltungen gebucht werden

Quellen: Wikipedia, stern.de, national library of medicine

Biografie im MÄRZ

Sie wollen Ihre eigene Biografie hier im Biografienforum veröffentlichen?