Selma Erder

Selma war für die Familie unentbehrlich, und niemand konnte sich vorstellen, dass sie eines Tages ans Heiraten denken und sich von der Familie trennen würde. Sie war glücklich, hatte Arbeit, einen großen Freundeskreis, übernahm Verantwortung für die Geschwister und auch die Eltern. Sie war allseits geschätzt, beliebt und anerkannt; sie hatte alle Freiheiten. Aber die Familie musste sich doch darauf einstellen, dass sie eines Tages heiraten würde. Der poten­zielle Ehemann müsste nun ein Mann mit Bildung und Sprachkenntnissen sein und aus Istanbul oder Umgebung stammen. Der war damals nicht so einfach zu finden. Durch die Kriege war die männliche Bevölkerung des Landes dezimiert worden. Die Vermählung mit einem entfernten Familienmitglied kam nicht in Frage. Selma war durchaus eine begehrte Heiratskandidatin, weil sie aus einer bekannten und guten Familie stammte, selbst Geld verdiente, gute Bildung und Erziehung hatte. Wir wissen weiter nicht so genau Bescheid, abe sie war einmal kurz verlobt. Ihr damaliger Verlobter soll aus dem Südosten des Landes gestammt haben. Er soll aber die vielen Freiheiten, welche Selma als Kind und auch als junge Dame genossen hatte, sehr missbilligt haben. Darum soll diese Verlobung nur kurz gedauert haben. Meine Mutter sprach nie über diesen Mann. Sie war etwa 24 Jahre alt, also im Heiratsalter. Viele ihrer Freundinnen waren verheiratet, hatten sogar Kinder. Auch in der Familie hatten Cousins und Cousinen schon ihre neuen Familien. Selma hatte es aber nicht eilig.

 BESCHREIBUNG
              Klein-Selma

 

Selma mit 17

 

Selma in Istanbul um 1929

 

Selma wurde eines Tages, es muss im Herbst 1931 gewesen sein, von einer Schulfreundin, Tochter guter Bekannter ihrer Eltern, zusammen mit ihrer Mutter zum Tee eingeladen. Die Freundin wohnte in einem alten gepflegten Mehrfamilienhaus im Stadtviertel Nişantaşı, nicht weit von Taksim, zusammen mit ihrem Mann und ihrer Schwester. Auch Sel und ich haben die Freundin später kennengelernt. Das Haus hatte einen schmiedeeisern verkleideten Lift, der mir seinerzeit sehr imponierte. An dem Nachmittag waren noch mehr Freunde eingeladen. Es wurden feines Gebäck und Kuchen mit Tee serviert, man unterhielt sich über Politik und Wirtschaft und über Zukunftspläne. Selma kannte die meisten Gäste, aber ein Ehepaar mit dem jungen Bruder des Mannes war ihr unbekannt. Sie hörte aber, dass der junge Mann ge­rade von einem Maschinenbaustudium in Deutschland zurückgekehrt sei und die Familie aus Samsun an Schwarzmeerküste stamme. Er sei in einer Provinzstadt, Kastamonu im Norden Anatoliens, an einem Technikum als Lehrbeauftragter beschäftigt. Selma soll nicht groß Notiz davon genommen haben und ganz normal von ihren eigenen Tätigkeiten und von ihren jün­geren Geschwistern erzählt haben. Es war alles sehr locker, eben ein netter Nachmittag.

Als das Ehepaar und der junge Mann sich als erste verabschiedet hatten, weil sie auf der asiatischen Seite Istanbuls wohnten und eine lange Fahrt hatten, fragte die Freundin, wie Selma den jungen Mann gefunden hätte. Er sei ein Heiratskandidat und habe sie bei der Ge­legenheit kennenlernen wollen. Selma gab zu, dass sie sich dabei keine Gedanken gemacht hätte. Sie sprang hoch und lief zum Fenster, um ihn wenigstens von oben noch einmal sehen. Sie fand es schade, dass sie es nicht vorher gewusst und ihn nicht richtig betrachtet hatte. Der junge Mann, Yunus Nezihi, mein Vater, erzählte später, es sei ein gutes Zeichen gewesen, dass sie ihm hinterhergeschaut und gewinkt hätte. Er wusste nämlich, worum es ging und hatte meine Mutter heimlich richtig beobachtet und Fragen gestellt. Von ihrer Schönheit war er sehr beeindruckt. Ihre natürliche und unterhaltsame Art, ihre Weltoffenheit und ihre Ruhe faszinierten ihn. Er wusste sofort, dass er sich eine solche Gattin wünschte. Er hatte in Mitt­weida zwar eine feste Freundin, Ilse, gehabt. Er wusste aber, dass sich ein deutsches Mädchen in der damaligen Türkei nur schwer integrieren konnte; er wusste ja selbst nicht, was ihn in der Türkei erwartete. Wir haben Fotos von seiner Freundin Ilse aus Mittweida gesehen, auch einige Geschenke von ihr. Später haben wir unsere Mutter damit geneckt, dass sie nicht die erste große Liebe meines Vaters sei. Sie lachte aber und machte den Unsinn mit.

Nach dieser Begegnung bei der Freundin wurde die Familie von dem Bruder und seiner Frau zu sich nach Acıbadem im asiatischen Teil Istanbuls, nicht weit von der Çamlıca-Schule, wo meine Mutter einige Jahre zur Schule gegangen war, eingeladen. Sie wohnten in einem alten großen Holzhaus mit einem großen Obstgarten. Der junge Mann, Yunus, war auch da. Er kam an den Wochenenden immer zu Besuch nach Istanbul. Seine Nichte war gerade vier Jahre alt. Es war immer viel zu tun im Garten und am Haus, und er war ein gern gesehener Gast. Bald waren meine Großeltern, aber auch Selma, von seiner guten Erscheinung, seiner Höflichkeit und Offenheit begeistert. Er hatte viele Länder Europas bereist, war an Geografie und Ge­schichte interessiert und sprach neben Deutsch auch Französisch, nicht so gut wie Selma, aber genug, um sich später hin und wieder in dieser „Geheimsprache“ mit ihr vor uns Kindern zu verständigen

 

Meine Mutter erzählte später, dass sie und Nezihi in der Zeit, in der sie verlobt waren, sich lange Liebesbriefe geschrieben hätten. Es gefiel ihr, was er alles aufs Papier bringen konnte. Seine schöne und leserliche Handschrift gefiel ihr auch. Jedes Wochenende war er in Istanbul, sie zeigte ihm die Stadt ausführlich und machte ihn mit ihren Freunden und Verwandten be­kannt. Endlich war sie überzeugt. Eine lange Überlegungszeit wünschten sie sich beide nicht mehr. Die Familie wusste, dass Selmas Entscheidung richtig war. Trotzdem war der Gedanke hart, dass sie nicht mehr mit Eltern und Geschwistern wohnen würde.

 

Auf der Rückseite des Bildes steht: „In den Tagen, wo Sie allein sind, kam ich zur Freundschaft, Selma Suat“

 Auf der Rückseite des Bildes: „Der sehr verehrten Frau Selma Suat   in der Hoffnung, dass es angenommen werde, überrreicht. Y. Nezihi“

 Auf der Rückseite: „8. März 928 Presseball 26/3/932. Dem sehr geliebten Nezihi, mein erster Ball. Selma Suat“

Dieses Bild von Selma war drei Monate später bei ihm angekommen. Die beiden wussten, dass sie bald heiraten würden.

Die Familie wusste, dass Selma sich entschieden hatte. Trotzdem war der Gedanke hart, dass sie nicht mehr mit Eltern und Geschwistern wohnen würde. Anfänglich machten sich meine Großeltern Gedanken; sie hatten nicht an einen Mann von außerhalb Istanbuls gedacht. Sie hatten für ihre Tochter einen Mann aus dem diplomatischen Dienst gewünscht, so wie es die Familie es gewohnt war, politisch gebildet und mehrerer Sprachen mächtig. Das hat übrigens meine Mutter später für uns beide Schwestern auch gewünscht. Meine Großeltern fanden es auch nicht so gut, dass Yunus in der Provinzstadt Kastamonu arbeitete; für einen Neuanfang ihrer geliebten Tochter schien ihnen so eine kleine Stadt, damals weit weg von Istanbul, nicht das Richtige. Cevza hielt ohnehin Abstand zu Yunus Nezihi. Aber Selma hatte den ruhigen, höflichen, weltoffenen Mann auf den ersten Blick gern. Besonders seine langen Briefe er­freuten ihr Herz. Schließlich gelangten die Eltern doch zu der Überzeugung, dass Selmas Ent­scheidung richtig war.

Die Karte hat Yunus vier Wochen vor der Hochzeit geschickt. Selma sagte später, mein Vater habe mit seinen angenehmen Erscheinung, seinem schönen Kopf und seinen sehr höflichen Manieren ihr eigenes und die Herzen der Freunde und Bekannten gewonnen. Nezihi verehrte Selma und schätzte ihre Lebensweisheit. Man sagt: “Daǧ daǧa kavuşmaz, insan insana kavuşur!“ Berge kommen nicht zusammen, aber Menschen.

Er kam nach sieben Jahren aus Deutschland, sie wollte davor nicht heiraten. So etwas nennt man „Schicksal“.

Hochzeitsfoto 13. Juli 1932

 

Meine Mutter Selma mit mir, Nil, in Kabatas, 1938

 

Selma beim Briefeschreiben

Am Geburtstag meines Vaters 1989 in Ankara

 

Der Buchtitel ist auf der BÜCHER-Seite unter dem Namen der Autorin Nil Berke zu finden.

Selma wurde am 23.05.1906 geboren und lebte bis zum 28.01.1991

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