Claus Fritzsche

Typisch für für die Jahrgänge 1920 bis 1927: Aus der Schule zur Wehrmacht in den Krieg. Für die Spätheimkehrer (1949) gab es in der DDR keine bevorzugten Ausbildungs- und Studienbedingungen. Mein Kapital war die russische Sprache, die ich mir besonders auf technischem Gebiet angeeignet hatte. Besondere Fähigkeiten zum Selbststudium waren unter diesen Bedingungen Gold wert.

Wormsleben – Geburtsort von Claus Fritzsche, eigene Aufnahme beim Überflug 2002

 

Die Umstände haben es ergeben, dass ich ständig Aufgaben anpacken musste, die mich zwangen, meinen fachlichen Wissensstand in eugener Regie zu vervollkommnen- Geboren am 05.05.1923 in einem kleinen Dorf – Wormsleben bei Luttherstadt Eisleben – wo der Vater Dorfschulmeister und ab 1925 Abgeordneter der Deutschnationalen Volkspartei im Preußischen Landtag war. Politische Grundeinstellung der Familie national und konservativ. Erste Schuljahre in der Dorfschule. Wegen Fehlens von öffentlichen Verkehrsmitteln zur Oberschule in Eisleben folgte ich Ostern 1933 meinen beiden älteren Brüdern zur Staatlichen Bildungsanstalt (STABILA) – einem Internatsgymnasium – in Naumburg/Saale, und ich war ungeheuer neugierig darauf, das selbst zu erleben, worüber die Brüder immer wieder stolz berichtet hatten. Die Enttäuschung kam schon sehr schnell. Als Schüler der ersten Gymnasialklasse (Sexta) war man eingesperrt und stand unter hartem Regime. Im Frühherbst 1933 gab es einschneidende Veränderungen im Lehrerkollegium. Mehr als die Hälfte der Lehrer wurden gegen „Erzieher“ ausgetauscht, und die kamen in SA-Uniform.
Der Schuldirektor musste einem SA-Sturmführer Platz machen. Für uns Sextaner wurde damit das Leben noch erheblich schärfer reglementiert und die absolute Herrschaft der Stubenältesten eingeführt. Echte Kommissmethoden brachen allerdings erst dann mit voller Wucht über uns herein, nachdem wir im Frühjahr 1934 mit Uniformen eingekleidet worden waren.
Zu den Züchtigungsmethoden gehörte noch der Rohrstock, dessen Schwielen noch 1935 von den Schlägen eines sadistisch veranlagten Erziehers mir lange Sitzbeschwerden machten. Was mir in Naumburg besondere Probleme bereitete, war das Mobbing unter Gleichaltrigen. Ich war ein Kleinster und Jüngster und rutschte schon im zweiten Halbjahr der Sexta in den Ruf eines Schlampers der „sowieso“ immer auffiel. Letztere Tatsache wirkte dann zunehmend auf die schulischen Leistungen.
Bei Versetzung in die Quinta noch Klassenbester sackte ich von Jahr zu Jahr ab und bekam bald nach Versetzung in die Obertertia den von mir ersehnten „blauen Brief“ mit der wunderbaren Information: „Ihr Sohn wird das Ziel der Klasse nicht erreichen, wir empfehlen, ihn von der Schule zu nehmen.“

 

     Claus Fritzsche am Funkgerät

 

Diese Empfehlung wurde von den Eltern akzeptiert. Das bedeutete keineswegs einen Bruch mit der deutschnationalen Grundeinstellung des Elternhauses und meiner Führergläubigkeit. Damit begann ein neues Leben, und der Hass auf die NAPOLA liegt mir noch im hohen Alter im Blut. Zu Hause und in der Oberrealschule zu Eisleben, habe ich mich von dem NAPOLA-Trauma erholt, die schulischen Leistungen erholten sich auch, und meine ersten Rutscher und Sprünge bei der Segelflugschulung am Gummiseil heizten meine Flugbegeisterung so richtig an. Im Februar 1941 hätten die Prüfungen zum Abitur beginnen sollen. An deren Stelle trat die Einberufung zum Arbeitsdienst und am 3. Mai 1941 wurde ich Rekrut in einer Einheit der Luftnachrichten. Als Trostpflaster erhielten wir das Reifezeugnis auch ohne Prüfungen.

1942 durchlief ich die Grundausbildung als Bordfunker. Nach deren Abschluss blieb ich an der Luftnachrichtenschule Erfurt als so genannter Hilfsausbilder bis zur Frontversetzung nach Russland im Juni 1943. Auf dem dritten Feindflug nachts über dem Kaspischen Meer abgeschossen, unverletzt aufs Wasser gekommen und von Fischern nicht gerade freundlich aufgenommen. Über die 6 Jahre Gefangenschaft gibt es mein Buch „Ziel – Überleben: Sechs Jahre hinter Stacheldraht (noch im Buchhandel erhältlich).

„Wir lernen stehen“


Hungermonate und Ruhr in einem Lager bei Stalingrad brachten mich an den Rand der Lebensfähigkeit. Mit sehr viel Glück kam ich wieder auf die Beine. Die Gründung des Nationalkomitees Neues Deutschland unter Beteiligung hoher Offiziere der 6. Armee weckte meine politische Neugier und führte dazu, dass ich mich zu einem Lehrgang der Zentralen Antifaschule für Kriegsgefangene anwerben ließ. Zum Kommunisten wurde ich dadurch nicht, aber ich kam zu der Erkenntnis, das der sowjetische Sozialismus keine wählbare Variante ist.

Als ich im April 1949 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wurde, war ich 26 Jahre alt und konnte keine Berufsausbildung nachweisen. Das einzige Kapital das ich aus Russland mitbrachte war eine profunde Kenntnis der russischen Sprache in Wort und Schrift und ganz speziell der technischen Übersetzung. Viele Industriebetriebe der DDR, so auch die VVB ABUS in Halle waren zu dieser Zeit mit Reparationslieferungen an die UdSSR beschäftigt und mussten umfangreiche Korrespondenzen und Betriebsanleitungen in russischer Sprache liefern. Schon am 1. Mai hatte ich trotz Fehlens eines Qualifikationsnachweises die nicht schlecht bezahlte Stelle des Betriebsdolmetschers in dieser VVB. Das Arbeitspensum füllte mich nicht aus. Selbst während der gesetzlichen Arbeitszeit konnte ich mich mit dem Lehrplan für Facharbeiter der Branche Industriekaufmann beschäftigen und bestand schon 1 Jahr später die entsprechende Prüfung.

In der naiven Vorstellung, dass es in Deutschland einen humanen Sozialismus geben könnte, wurde ich Kandidat zur Mitgliedschaft in der SED. 1951 bot man mir die Stelle eines Verkaufsleiters im VEB Förderanlagen Magdeburg an, in der ich leider nur ein Jahr lang geduldet war. Nachdem ich im Herbst 1952 mit dem Prädikat PARTEIFEIND aus der SED ausgeschlossen worden war, musste ich den Posten unverzüglich räumen und landete als technischer Zeichner im Konstruktionsbüro. Damit war aber die wichtigste Bedingung für ein Fernstudium an der Fachschule für Maschinenbau in Magdeburg erfüllt, denn ich gehörte nun formal zur technischen Intelligenz.

Als Industriekaufmann wäre mir das Studium verschlossen geblieben. Die Aufnahmeprüfung ins 2. Semester bestand ich ohne Probleme. Die Drohung des Betriebsleiters: „Irgendwann finden wir schon einen Grund, Sie rauszuschmeißen“, beantwortete ich mit der Suche nach einem anderen Arbeitsplatz. Immer wieder hörte ich: „Industriekaufmann, Leitungserfahrung und perfekt Russisch? brauchen wir. Kommen sie in drei Tagen wieder.“ Nach drei Tagen: „Wir können sie nicht einstellen.“ Warum?? Kein Kommentar.

Ich stand auf einer schwarzen Liste. Als Dolmetscher eingestellt wurde ich nach vielen Abweisungen durch den russischen Generaldirektor der Sowjetischen Aktiongesellschaft AMO (ehem. Krupp Gruson), der alle Einsprüche der SED Funktionäre abwehrte.
Mit der Übergabe der sowjetisch verwalteten SAG an die DDR am 01. Januar 1954 sank der Bedarf an Russisch-Dolmetschern im Werk erheblich. Gleichzeitig öffnete sich eine Möglichkeit, ein eigenes Übersetzungsbüro zu eröffnen. Mit Übersetzungen technischer Literatur habe ich 10 Jahre lang gut verdient. Außerdem kam 1955 mein erstes Fachwörterbuch russisch-deutsch „Hütten- und Walzwerkswesen“ heraus, und das Manuskript des in beiden Übersetzungsrichtungen gestalteten Fachwörterbuches „Arbeits- und Kraftmaschinen, Fördertechnik“ wurde fertig gestellt.

Mit dem Bannfluch des Parteifeindes endete auch mein zweiter Einstieg in den Segelflugsport: „Parteifeinde fliegen bei uns nicht“, lautete die Begründung des Fluplatzverbotes. Mit der Begründung: „Parteifeinde werden bei uns nicht Ingenieur“ sollte ich 1956, vier Wochen vor dem Examen, von der Ingenieurschule verwiesen werden. Gute Vorzensuren retteten mich. Die Schulleitung beschwerte sich beim Zentralkomitee der SED und hatte Erfolg. Am 15. Juni 1956 erhielt ich das Abschlusszeugnis mit der Bewertung „Bestanden mit Auszeichnung“. Stipendium habe ich nicht bekommen!

Neben dem Studium hatte ich mein Übersetzungsbüro weiter betrieben, und mit täglich 10-12 Arbeitsstunden konnte ich neben dem Studium auch meine Familie ernähren. Nun musste ich aber, wie jeder andere Absolvent in der DDR, nach geltendem Gesetz mindestens 3 Jahre in einem Betrieb arbeiten, der mir vom zuständigen Ministerium zugewiesen wurde. Das wäre das Ende meiner Selbständigkeit gewesen. Der große Erfolg meines ersten Fachwörterbuches und die Arbeit an einem zweiten wesentlich umfangreicheren Werk (siehe oben), reichten aus, um eine Freistellung als Autor eines dringend benötigten Fachbuches zu erhalten. Man war Mitarbeiter eines Volkseigenen Betriebes ohne Gehalt, und daraus resultierten eine Menge Vorteile, von denen ein ganz Selbständiger nur träumen konnte.
Der nächste Zusammenstoß mit der SED folgte 1963. Das Übersetzungsbüro des Zentralkomitees der SED mit Namen „Intertext“ versuchte, mich als Leiter einer Filiale in Magdeburg zu werben. Über das Gehalt wurden wir uns nicht einig, und so folgte ein Boykott von Staats wegen. Betriebsleiter erhielten den Parteiauftrag, dafür zu sorgen, dass mir keine Aufträge mehr erteilt wurden.
Das war das Ende der Selbständigkeit, denn ich hatte so gut wie keine Privatkundschaft. Ein besonders guter Kunde – das Forschungsinstitut für die Kühl- und Gefrierwirtschaft in Magdeburg – stellte mich 1963 als wissenschaftlichen Mitarbeiter ein und blieb bis zur Wiedervereinigung 1990 mein hoch geachteter Arbeitgeber.

In vielen Arbeitsgebieten des Forschungsprogramms habe ich mich mit Engagement betätigt und sehr viel gelernt. Als ausgebildeter Ingenieur für Maschinenbau erhielt ich 1984 die staatliche Zulassung als Bausachverständiger für allgemeinen Hochbau. Leider wurde das Institut 1990 wie so viele Forschungseinrichtungen der DDR abgewickelt. Nach Ruhestand war mir noch nicht zu Mute, und so wurde ich mit 67 Jahren noch einmal Projektingenieur in einer mittelständischen Firma: Ganz Kühlhausbau GmbH Hannover – wo ich mit viel Freude noch 3 Jahre gearbeitet habe. So konnte ich mir das so viele Jahre erträumte Hobby als Rentner leisten: Fliegen.
Die Privatpilotenscheine B für Motorsegler und C für Segelflugzeuge erwarb ich mit 68 bzw. 69 Jahren und war bis zum 80. Lebensjahr fast 800 Stunden als Verantwortlicher Luftfahrzeugführer in der Luft, davon über 250 Stunden ohne Motor.

1997 habe ich dann begonnen, zu schreiben. Zuerst einen Bericht über die Kriegsgefangenschaft in russischer Sprache, dann das gleiche Thema in deutscher Sprache, die trotz ihres völlig unsinnigen Titels sehr gut angenommen wurde. Über 200 Zuschriften dankbarer Leser haben mir viel Freude gemacht.um Abschluss noch eine kurze Erzählung aus meinem Leben: Im Mai 1944 war ich als Kriegsgefangener in der SU auf einem Außenkommando, wo wir uns sehr frei bewegen konnten. Eines schönen Abends saß ich am Flussufer und bewunderte den Sonnenuntergang. Da kam eine ältere Frau des Wegs, der man ihren Beruf – Wahrsagerin – sozusagen auf den ersten Blick ansah. Wir grüßten uns freundlich (mein Russisch war damals schon recht gut) und kamen ins Gespräch. Die Dame setzte sich schließlich neben mich und griff nach meiner Hand. Sehr schnell hatte sie sich ihr Urteil über meine Zukunft gebildet: „Du bist ein vom Glück begleiteter Mensch. Damit gibt es nur einen kleinen Haken, dein Glück ist oft die Errettung aus kritischen Situationen.“ Dann setzte sie hinzu: „Deine Lebenslinie sagt mir, dass Du 100 wirst.“

Claus Fritzsche verstarb im Jahr 2017 – zum 100. fehlten ihm knappe 6 Jahre…

 

Das Leben von Claus Fritzsche ist im Rahmen des Biografie-Wettbewerbs „Was für ein Leben“ verfilmt worden: 

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