Annemarei Lenzner

BESCHREIBUNG
Ich 1948

Es war am Abend des 30.  Januar 1945, als kurz vor neunzehn Uhr die Sirenen heulten. Ich war zunächst überrascht, denn Fliegeralarm hatte es bislang immer nachts gegeben. Meine Mutter nahm meinen kleinen Bruder Karl-Dietrich, von allen Diti genannt, den Notkoffer und eilte mit mir in den Luftschutzkeller, der sich unter dem Haus meines Großvaters befand. Dort saßen wir eng zusammengedrängt (meine Großeltern, meine Tante, wir drei und noch drei weitere Personen). Plötzlich sagte jemand: »Die Russen sind da! Sie belagern bereits das Bahner Tor!« (Die Stadt Pyritz war von einer dicken Festungsmauer um- geben, in der sich vier große Stadttore befanden.)

Sofort fielen mir wieder die Flüchtlingstrecks ein, die sich seit November durch die Stettiner Straße, in der wir wohnten, bewegten; und ich sah das sorgenvolle Gesicht meiner Mutter wieder vor mir, als wir vom Fenster aus den Flüchtlingsstrom beobachteten.BESCHREIBUNG
Mutter und ich

In einem Brief vom 23. Januar 1945, den ich wie alle anderen auch im Nachlass meines Vaters gefunden habe, schreibt sie:

Im Übrigen haben wir es heute schon den ganzen Vormittag über schießen hören. Wer weiß, was morgen schon ist. – Danzig und Schneidemühl sind auch schon geräumt. Täglich ergießen sich hier neue Flüchtlingsströme, die von erfrorenen und verhungerten Kindern erzählen. Hier packen die Leute auch schon die Sachen. Aber wo sollen wir denn noch hin?! Soll ich meine Kinder auf der Landstraße erfrieren lassen? Denn mehr als meine Kinder kann ich bei solch einer Panik ja gar nicht mitnehmen, und wohin soll ich? – Vor ein paar Tagen hat man hier alle schwangeren Frauen und alle Kinder bis zu vier Jahren aufgeschrieben. Diese sollen in Kinderlandverschickungslager evakuiert werden. Die Mütter und die anderen Kinder bleiben hier.

 

Soll ich meinen süßen Diti allein fortgeben, wenn es für mich und Annmareichen keine Möglichkeit gibt? Ich weiß nicht, was ich machen soll, wenn ich mir diese Frage vorlege. Ist es richtig, wenn ich es von uns losreiße, ist es richtig, wenn ich es bei mir behalte und damit sein Leben gefährde? Ist es richtig, ein Kind, wenn ich mit Annmareichen umkommen sollte, Du selbst nicht mehr zurückkehrst, dies Kind allein seinen Weg gehen zu lassen? – Aber es könnte ja auch sein, dass Du heil zurückkommst, und dann hättest Du wenigstens noch Deinen Jungen, wenn von uns nichts mehr ist! Soll ich es hier bei uns behalten, und wenn es eben das Schicksal will, mit meinen beiden Kindern gemeinsam aus dem Leben gehen? Mein Gott, ich weiß es nicht. – Ich kann nur weinen, wenn ich daran denke.

Heute früh ist auch schon der Volkssturm ausgerückt. Fritz Sanft ist auch darunter, einige sogar mit Holzkurkeln an den Füßen. Gestern sind hier 600 Verwundete angekommen: nur in ihren Krankenkitteln und umgehängten Gasmasken wurden sie transportiert; einige, die laufen konnten, nur auf Strümpfen. Hoffentlich erhältst Du diesen Brief noch in Norwegen. Hoffentlich geht es Dir noch gut.

 

Mit den innigsten Wünschen für Dein Wohlergehen Deine Hite

 

 

Und aus dem Brief vom 29.  Januar 1945:

Mein lieber Mann! Draußen heult ein fürchterlicher Schneesturm. Die Straßen sind verstopft mit Trecks. Über- all liegen die Menschen: in Warenhäusern, Kinos, Cafés, selbst Wachlins Gewächshäuser sind mit Menschen gefüllt. Um uns herum ein wahnsinniges Elend. An den Stadteingängen stehen Männer mit Panzerfäusten. Aber noch geht es uns gut. Wir haben zu essen, die Wohnung ist warm. Für Annmareichen und mich habe ich je einen Rucksack gepackt, mit dem Allernotwendigsten, für Diti einen warmen Sack genäht. – Gebe Gott, dass er uns erhalten bleibt, Kinder erfrieren immerzu. Aber noch haben wir den Kopf oben. Lass es Dir immer gut gehen und innigen Dank für all Deine Liebe.
Deine Hite

 

 

BESCHREIBUNG
Diti und ich

Nun waren wir im Keller, und Angst machte sich breit. Dann hörten wir auch schon die Geschosse der Flak. Der Strom fiel aus, die Wasserleitungen wurden zerstört. Am nächsten Tag um die Mittagszeit, in einer Feuerpause, wollte ein Mann von der Pumpe, die auf der Straße vor unserem Haus stand, Wasser holen. Aber er war noch nicht fertig, als ein Geschoss den Arm abriss.

Nachdem wir zwei Tage und drei Nächte im Keller ausgeharrt hatten, beschloss meine Mutter, Pyritz zu verlassen. Am 2. Februar 1945 gegen vierzehn Uhr machten wir uns in einer Feuerpause auf den Weg. Meine Mutter, einen Rucksack auf dem Rücken, schob den Kinderwagen mit Diti, ich die Sport- karre, beladen mit zwei kleinen Koffern und meinem Ruck- sack. Doch kaum hatten wir das Stettiner Tor passiert, als der Geschützdonner wieder einsetzte. Wir liefen die Straßen entlang, zwischen brennenden Häusern hindurch, bis wir die Stadtgrenze erreicht hatten und vier Kilometer außerhalb von Pyritz in das Dorf Briesen gelangten, wo wir in einem Haus, zusammen mit anderen Flüchtlingen, Unterschlupf fanden.

Am nächsten Tag wurde dieses Haus ununterbrochen von der Artillerie beschossen. Es gab diesmal auch keine Feuerpause um die Mittagszeit. Wir saßen, dicht an die Wand gekauert, die Fenster meidend, stumm und angsterfüllt, bis es dunkel wurde und die Schießerei endlich aufhörte. Als sich am nächsten Tag dasselbe wiederholte, wollte meine Mutter mit uns im Schutze der Dunkelheit nach Groß Rischow weiterlaufen. Wir brachen also auf, es tobte ein fürchterlicher Sturm, zum Glück war es ein warmer Wind. Der Weg führte durch einen Kiefernwald. In der Finsternis hörten wir über uns die Äste krachen, es war unheimlich. Voller Angst bat ich meine Mutter, doch umzukehren. Sie stimmte zu, weil sie auch Angst hatte und sich davor fürchtete, sich zu verlaufen. Natürlich besaßen wir keine Landkarte oder Taschenlampe und manches andere nicht, was in der Hektik des Aufbruchs und der gebotenen Eile zurückgelassen worden war.

So machten wir uns dann am folgenden Tag wieder auf den Weg und erreichten, da uns der Wald über weite Strecken vor Tieffliegern Schutz bot, eine Rote-Kreuz-Baracke, kurz vor Groß Rischow, direkt an der Straße, aber gut versteckt zwischen den Kiefern. Wie sich herausstellte, handelte es sich um einen Hauptverbandsplatz, wohin man die im Kugelhagel verwundeten Soldaten zur Erstversorgung brachte. Da die Verwundeten aber bereits abtransportiert und in ein weiter von der Kampflinie entferntes Lazarett verlegt worden waren, stand diese Baracke leer. Nur zwei Rote-Kreuz-Helferinnen waren noch da, denn am nächsten Morgen sollte diese Station endgültig geräumt und verlassen werden. Diese Tatsache macht deutlich, wie dicht wir an der Kampflinie und noch lange nicht in Sicherheit waren. Wir wurden jedoch freundlich aufgenommen; meine Mutter konnte Diti wickeln und versorgen, und wir bekamen eine warme Suppe – die erste warme Mahlzeit seit fast einer Woche – und erhielten eine Schlafstatt. Ich fühlte mich in dieser gut getarnten Baracke sicher und geborgen und schlief ohne Angst ein. Als ich auf- wachte, war meine Mutter schon dabei, Fotos zu vernichten und alles auszusortieren, was ihren Rucksack unnötig beschwerte, denn wir mussten weiter.

Als wir gerade aus der Tür traten, kam uns mein Großvater mit Czeslaw, dem Polen, entgegen, der als Kriegsgefangener bei meinem Großvater in der Kupferschmiede arbeitete – übrigens ein heller Kopf, der binnen zwei Jahren fehler- und akzentfrei Deutsch sprechen gelernt hatte. Wir erfuhren, dass meine Großmutter und ihre Tochter (meine Tante Mieke) noch mit einem Zug, der wider Erwarten zusammengestellt worden war, Pyritz verlassen konnten. Mein Großvater wollte unbedingt in seinem Haus bleiben – immer noch in der Hoffnung, die Russen würden von den deutschen Truppen zurückgedrängt werden. Als das Haus bereits durch mehrere Treffer beschädigt war, hat schließlich wohl Czeslaw, der begreiflicherweise auch Angst vor den Russen hatte, meinen Großvater dazu bewogen, in wirklich allerletzter Minute Pyritz zu verlassen.

Czeslaw schwang sich auf sein Fahrrad, wohl ganz froh, dass er nun schneller vorankam, und mein Großvater zog mit uns weiter. Das Wetter war nach dem warmen Sturm- wind umgeschlagen, und es herrschte nun bitterkalter Frost. Kurz nach Sonnenaufgang wurde wieder geschossen. Bis zu dem drei Kilometer entfernen Dorf Horst bestand für uns keine Gefahr, da der Wald uns schützte. Aber danach führte die Chaussee durch eine Ebene, und wir waren in dem blendenden Sonnenlicht eine wunderbare Zielschreibe für die Tiefflieger. Zwanzig, dreißig Meter neben uns schlugen die Geschosse ein. In einer Art stumpfer Ergebenheit liefen wir weiter, bis wir mittags gegen zwölf Uhr an ein Bahn- gleis gelangten, rechts abbogen und uns auf einem schmalen Trampelpfad neben dem Bahnkörper fortbewegten. Denn mein Großvater meinte, dies sei der kürzeste Weg, um nach Kolbatz zu kommen. Dort wollte er bei einem Brennermeister, dem er Kupferkessel etc. geliefert und installiert hatte, um Unterkunft für uns bitten.

Ich versuchte, mit meiner Sportkarre und den Koffern auf den Bahnschwellen entlangzulaufen, aber es ging noch schlechter als auf dem Weg. Meine Mutter hatte Mühe, den Kinderwagen in der Spur zu halten. Es waren kräfte- zehrende drei bis vier Kilometer, aber mir kamen sie wie eine Ewigkeit vor. Und die ganze Zeit über hatte ich Angst, dass von dem Kinderwagen, einem Kriegsmodell mit auf- gesteckten, nur durch eine Spange gehaltenen Rädern, ein Rad wegbrach oder eine Spange zersprang und wir den Wagen zurücklassen mussten. Doch dann wäre mein kleiner Bruder, der seit morgens früh in seinen nassen Mull- windeln ausharren musste, bei dieser eisigen Kälte in der Sportkarre erfroren. Doch wir hatten Glück und erreichten Kolbatz gegen dreizehn Uhr. Mein Großvater, der mit dem Brennermeister erst allein verhandeln wollte, ließ uns in der kalten, zugigen Werkhalle zurück. Es verging fast eine Dreiviertelstunde – meine Mutter und ich froren entsetzlich, und unser Diti litt still vor sich hin –, bis mein Großvater wiederkam und sagte, dass wir weiterziehen müssten. Nicht einmal einen Teller Suppe oder ein Aufwärmen hatte man uns angeboten. Ob mein Großvater etwas zu essen bekommen hatte, weiß ich bis heute nicht.

BESCHREIBUNG
Mutter nach der Flucht

 

(Auszug aus Kapitel 1 meines Buchs: Unsere Flucht vor den Russen)

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