Gemeinsam altern,

mein Körper und ich

Auf die Welt kommen

Es ist über 84 Jahre her, dass du an einem kalten Freitagabend im Februar unsanft mit einer Zange in die Welt gezogen wurdest, nach stundenlangen vergeblichen Versuchen, dich durch den Geburtskanal zu zwängen. Warst du auch narkotisiert wie deine Mutter? War die Geschwulst an deinem Kopf schon da, bevor du in die Zange genommen wurdest?

Der Arzt fasste dich kopfunter an den Füßen, schlug dir leicht auf den kleinen Po. Ein Schrei, dann ringst du nach Luft. Die Mutter auf dem Küchentisch wird mit leichten Schlägen auf die Wangen aus der Narkose geholt. Das erste Bad steht schon bereit. Die üblichen Verrichtungen der Hebamme. Du liegst angezogen und gewindelt im Weidenkörbchen unter dem Himmel und nuckelst am Däumchen.

Du wirst ins Esszimmer abgeschoben, wo der Kanonenofen Wärme ausstrahlt und allein gelassen. Viele Nächte, bis die alte Nachbarin deiner Mutter erzählt, dass sie dich nachts seit zwei Wochen weinen hört. Du warst ein Säugling mit Hunger und Durst, brauchtest Hautkontakt, deine Bedürfnisse mussten erfüllt werden, damit die Seele keinen Schaden litt. Du äußertest Unmut, wenn dich Blähungen plagten oder die Windel nass war. Mutti erzählte, dass ihre Brustwarzen vom Stillen wund wurden und sie deshalb ihre Brust zurückzog. Papa schimpfte: sie verdiene gar kein Kind. Hast du die angespannte Stimmung gespürt?

Im Lauf des ersten Jahres bekam ich immer mehr von der Welt mit. Wir waren eins. Als du laufen lerntest, waren wir mit den Senkfüßen auf Kriegsfuß, weil ich immer umfiel. Oft auf den Hinterkopf. Damals merkte ich, dass du mein Körper bist, der sich fremd anfühlte und mir nicht immer gehorchte. Als du – von der kleinen Schwester aus dem Babykorb vertrieben – abends weintest, weil sich das Gitterbett so riesig anfühlte, spürtest du die harten Hände deines Papas schmerzlich auf deinem kleinen Po. Danach trautest du dich nie mehr laut zu weinen.

Kind sein

Eine nicht ganz unbeschwerte Kindheit. Drei, dann vier Geschwistern, streng christlich. Du wuchst aus den Kleidern deiner Cousine heraus, deine Schwestern trugen sie auf .

Liebe und Hiebe, mehr Hiebe als Liebe? Im Kindergottesdienst und auch zuhause sangen wir „Gott ist die Liebe.“ Liebe, liebevolle Geborgenheit in der Familie war nur an Festen wie Weihnachten und Geburtstagen zu spüren.Hiebe im Alltag bei kleinen Vergehen. Mit vier wurde dir schwarz vor Augen. Nicht nur der Körper schmerzte, auch die Seele wurde verletzt. Beim Spiel im Sandkasten unterm Küchenfenster kreischte die kleine Schwester, wenn du ihr deine Schaufel nicht gabst. Prompt kam Mutti und versohlte den Hintern. Wieder rettete dich die alte Nachbarin.

Erst nach dem erstenTuberkulin-Hauttest wurde klar, dass die Lunge eine TB-Infektion überstanden hatte. Du hattest gekämpft und die Bazillen neutralisiert, obwohl ich weniger immun war, weil Mutti mich früh abgestillt hatte. Meine TB-kranke Tante hatte mich auf den Arm genommen. So wurde ich immer wieder durchleuchtet. Du hast dich auch davon nicht unterkriegen lassen.

Im ersten Schuljahr: ungelenke Buchstaben und verfehlte Zeilen auf der Schiefertafel. Schläge mit dem Stiftkastendeckel auf die rechte Hand. Bis die Lehrerin Einsicht hatte: Klug, aber eine schreckliche Handschrift.

Oft fühltest du dich ungeschickt und steif. Im Turnunterricht wusstest du nicht, wie du Arme und Beine richtig bewegen solltest. Noch heute verwechsle ich rechts und links. Doch du warst nie ein zu kleines oder zu großes Kleid , warst nie ein Gefängnis. Es fühlte sich gut an, wenn du und deine Schwester sich im Bett gegenseitig gekitzeltem, wenn jemand deine Wangen streichelte oder den Rücken. Von Mutti gab es nur einen Gute-Nacht-Kuss. Wenn du eine Krankheit ausschwitzen musstest, wischte sie dir die nasse Stirn ab. Zwischen den Beinen fühlte es sich anders an als am übrigen Körper.

Neugierig betrachtete ich den Körper des kleinen Bruders, der anderen Kinder und der Erwachsen an und verglich. Im April 1945 nach den Nächten auf der Matratze des kalten Kellerbodens war jeden Morgen dein Bett nass und ich schämte mich. Wie lange es dauerte, bis endlich das Bett trocken blieb, weiß ich nicht mehr.

Fieber, Erkältungen, vereiterte Mandeln, Sonnenbrand, beißende Kälte, blaue Flecken, aufgeschlagene Knie, Kratzer, Schnittwunden, Übelkeit, Erbrechen, all das bereitete dir Unbehagen. Du fühltest dich nicht ganz.

Frau werden…

Dann wuchsen unter den Brustwarzen kleine Erhebungen. Verschwanden wieder. Die Hungerzeit zwischen 1945 und 1949; sich nur ab und zu satt essen können. Es dauerte Jahre, bis du zur Frau wurdest. Doch warum musste es alle vier Wochen so weh tun? Und das viele Blut, das mit Stoffbinden aufgefangen wurde, die gewaschen und auf die Leine gehängt, die Erwachsenen und vor allem die Männer zu spöttischen Bemerkungen verleiteten?

Tanzen war Sünde. Bis du dich im Tanz zur Musik bewegen konnte, dauerte es ewig bis der Kopf ausgeschaltet war. Kein Mauerblümchen mehr. Nur fliegen war schöner. Warum wollten die jungen Männer etwas von dir? Mutti meinte: Das Schlimme ist, dass es bei den Männern nie aufhört. Bis du 23 Jahre alt warst, war das Gärtlein noch von einem Zaun geschützt. Du schenktest mir schöne Empfindungen und Gefühle, wenn ich große Freude spürte oder mich selbst streichelte.

…und Mutter

Dann kam Horst, der Mann, der mich heiraten wollte. Ich wurde schwanger und du verändertest dich, von Woche zu Woche, bis neun Monate vorbei waren. Der Geburt warst du ausgeliefert, als das Kind aus deinem Körper drängte. Die Brüste waren größer geworden. Aus ihnen spritzte Milch. Der Schnitt, die Wunde, die Naht. Schmerzen, bis alles verheilt war. Die schwere Nähmaschine mit der Schwiegermutter die Treppe hoch tragen. Ein starker Schmerz – die Mutterbänder sind überdehnt. Kreuzschmerzen – einen Ring tragen – Operation – zwei Schnitte am Venushügel.

Ein zweites Kind. Schwangerschaft. Die feine Energie rings um das werdende Leben. Die Geburt. Ohne Schnitt. Das Steißbein schmerzt beim Sitzen. Ausgerenkt vom Hinterkopf des Sohnes. Kreuzschmerzen, Ischias. Die Schmerzen zeigten, dass etwas klemmt. Und trotzdem fühlst du immer wieder Ekstase.

Jahre später eine Abtreibung. Sterilisation. Der Arzt machte eine Minisektio. Einen Bauchschnitt. Dir blieb eine verunstaltende Narbe. Keine Hormonpillen mehr einnehmen. Dir ohne Angst die sexuellen Bedürfnisse erfüllen können.

Ein Mann fürs Leben

Habe ich dir auf der Suche nach dem Einen zu viel zugemutet? Die Zahl der Bettgenossen ist zweistellig. Ein neuer Mann. Ein Mann fürs Leben? Er hat einen schönen Körper. Ein Streichler. Auch du bist schön, die Haut ist geschmeidig. Lädt dazu ein, berührt zu werden. Einfach spüren und den Schauer fühlen. Darauf könntest du nicht verzichten als auf die körperliche Vereinigung. Rein – raus? Zusammensein, ineinander übergehen.Die Körper lieben sich. Bis heute. Engelbert liebt deineüppigen Brüste, die Horst geringschätzig Omabusen genannt hatte.

Wenn wir im Urlaub auf die hohen Berge stiegen, wurden dir Höchstleistungen abverlangt. Du magst es und genießt. Auf dem Gipfel durchströmen dich Freude, Glücksgefühle und Energie. Nach Jahren sind fast alle Gipfel, die wir sehen, wenn wir wieder einmal oben angelangt sind, erstiegen. Eine weitere Herausforderung ist: Nicht nur bergsteigen, sondern klettern. Am Seil gesichert. Die Höhenangst, durch die Wohnung im Hochhaus verursacht, ist fast ganz verschwunden.

Den Körper annehmen

Dich nackt zu zeigen, fiel lange schwer. Manchmal lief ich im Traum nackt draußen herum. Doch seit wir auf den griechischen Inseln nackt badeten und am Strand lagen, schäme ich mich nicht mehr. Dich richtig anzunehmen lernte ich in den Tantraworkshops. Da legte ich im Kreis von drei oder vier Umsitzenden die Kleidung ab. Nackt in der Mitte, erzählte ich, was mir alles an dir nicht gefiel und mir seelische Schmerzen bereitete. Danach sagte jede/r, was sie oder er an dir schön fand. Eine Wunschberührung. Das tat gut.

Feldenkrais – Übungen und Behandlungen – tun dir gut. Bewusst bewegen. Endlich mit dir eins sein. Früher waren oft die Knie aufgeschlagen, zweimal der Ellbogen gebrochen. Jetzt sind wir im Einklang. Wenn ich falle, lässt du mich nicht in Stich. Tote Zähne hast du mir schon 1964 beschert. 1970 fiel ich vom Fahrrad, weil der Dynamo in die Speichen geriet. Wieder mussten Zähne daran glauben. Der Zahnersatz hat mich schon viel Geld und Tränen gekostet. Du brauchtest schon früh eine Brille. Kurzsichtig, alterssichtig, weitsichtig. AMD, grauer Star. Aber immer noch sind die Augen strahlend blau. Immer noch bekommst du Komplimente. Dass die Zahlen und Buchstaben so klein sind, dafür kannst du nichts.

Der Körper altert

Erste Schweißausbrüche: Vorboten des Klimakteriums: Dann: Hurra, endlich Feuerfrau, die große Freiheit! Doch dann: Bluthochdruck, Herzrasen, mit Blaulicht ins Krankenhaus. Du liebst mich nicht mehr. Ich zürne dir. Schlaflosigkeit, Wesensveränderungen. Ich schleppe dich durch den Tag und versuche vergebens, dich nachts zur Ruhe zu bringen. Hormone. Wieder jeden Monat Blutzoll zahlen. Du gehst auseinander. Die Waage zeigt immer mehr Kilos. Mit Zigaretten gequält habe ich dich nie. Aber immer wieder auf Trab gebracht mit Bohnenkaffee. Abends das Glas Wein schadet nicht. Die Blutwerte sind wieder völlig einwandfrei, seit der Herzschlag nicht mehr mit Betablockern gebremst wird.

Und du, mein Herz, machst dich seit der Diphtherie 1950 immer wieder bemerkbar. Damals hat der Körper fast aufgegeben. Der Lehrer hatte mich gebeten, zum Muttertag ein Gedicht zu schreiben. Als ich im Aprilwind die Wäsche im Garten aufhängte, fielen mir die Worte ein. Wir grüßen liebe Mutter dich …, drei Strophen. Und ich sollte mich bei der Feier hinstellen, vor meine Muttter. Worte sprechen, die ich nicht fühlte. Immer wieder hatte sie mich ein schreckliches Mensch genannt, so lange ich zuhause wohnte. Deshalb besuchte ich die Familie so selten im Haus der Großmutter. Und wie Kafka schrieb: Da hatte der Körper ein Einsehen. Mein Vater holte mich nachhause, als er hörte dass ich krank war. Am Sonntag kam der Arzt und ich kam ins Krankenhaus. Diphtherie. Es wäre fast zu spät gewesen. Serum vom Pferd und vom Rind. Die Schmerzen nach der Mandeloperation waren höllisch und kaum auszuhalten. Du erholtest dich. Wurdest wieder gesund. Obwohl ich einige Zeit bei meinen Eltern war, blieb das Verhältnis gespannt. Du machtest dich immer wieder bemerkbar, bis du nach sieben Jahren krank wudest. Du hast dich immer wieder erholt, hast die ganzen Jahrzehnte durchgehalten, wenn es auf die Berge ging, bis über 3000 Meter. In den Wechseljahren gerietst du öfter ins Rasen, bis die anfällige dritte Reizleitung stillgelegt war.

Als ich am 30.6.1999 in Rente ging, waren es genau 50 Jahre, dass Geist und Körper – mit kurzen Unterbrechungen – fremdbestimmten Arbeitsprozessen unterworfen waren. Dein schmächtiger Körper hielt fast bei allen Arbeiten auf dem Bauernhof mit den Erwachsenen Schritt. Im Stall vor Schulbeginn jeden Morgen zwei Kühe melken, Mist auf den Wiesen verteilen, bei der Feldbestellung, den Enten von Heu, Getreide und Hackfrüchten. Bücken, laufen, Körbe und Milchkannen schleppen. Als Schwesternhelferin im Krankenhaus hörte die Schlepperei nicht auf.

Jetzt sind wir beide alt, du mein Körper, und ich. Fast unversehens. Altwerden war kein Problem. Nie habe ich damit kokettiert. Die weißen Haare stehen mir. Mein Liebster berührt dich immer noch gerne, lustvoll und liebevoll. Und bei der Liebe entdecke ich dich immer neu. Du zeigst dich nie gleich. Immer anders. Die Liebe des Liebsten erhält dich schön.

Du verlangst, dass ich dich liebevoll behandle. Deiner gewahr bin. Ein großes Geschenk war das Achtsamkeitsseminar. Der Body-scan hat mich dich ganz neu erfahren lassen. Wenn ich von der linken kleinen Zehe durch den Körper gehe, überall nachfühle, bis ich am Mund ankomme, schlafe ich entspannt ein. Oder nach einer schlechten Nacht, wenn du dich wie zwischen Baum und Borke fühlst, fühle ich mich danach wieder in dir.

Die Jahre gehen nicht spurlos vorüber. Die Haut an den Armen ist voller feiner Falten. Seit 2017 ein Knalltrauma eine Fenstermembran zerrissen hat, brauchst du Hörgeräte. Doch fast jeden Abend hören wir Musik. Oft schmerzt du mich an den Knien, am Rücken, in den Armen, in den Fingern. Ich kann nicht mehr so weit laufen wie früher, zwei gebrochene Wirbel und eine Wirbelkanalstenose. Und die Füßsohlen brennen, sind überempfindlich, Trotzdem hast du mich nie in Stich gelassen. Und doch hältst du noch heute durch, wenn es gilt, Einkäufe in den IV. Stock zu tragen Dafür danke ich dir. Und dem Schutzengel, der mich lebenslang begleitet hat. Am 2.9. bin ich nach einem Zahnarzttermin eine Steintreppe hinunter gestürzt. Aber außer Prellungen, blauen Flecken und Ödemen ist nichts passiert. Selbst die Brille blieb ganz. Ich war genervt, Mundschutz, beschlagene Brille, feuchtes Wetter und deshalb unachtsam.

Wenn einmal das Herz stehen bleibt, das Bewusstsein entschwindet, bist du dann auch verschlissen wie ein oft gewaschenes Hemd oder darf ich dich unversehrt der Erde anvertrauen? Wirst du mich bis dahin unterstützen, so wie ich dich unterstütze, ehre und liebe?***