Nila Sebastians Zeitreisen ins letzte Jahrhundert

1971 Ein neuer Lebensabschnitt

„In einer anderen Welt …“ wie lange ist das wohl noch im Checkpoint des Tagesspiegel zu lesen? Da steht dann, was wegen Covid-19 nicht stattfindet, auch wenn die Einschränkungen langsam gelockert werden. Es könnte auch „In einem anderen Leben …“ heißen, denn nichts ist mehr wie früher. Verlockend, auf eine Zeitreise ins letzte Jahrhundert, Jahrtausend zu gehen, zurück in jene andere fast vergessene Welt im Januar 1971.
Ein kalter Morgen am 4. Januar. Du wartest an der Haltestelle Wilhelmsruher Damm/Eichhorster Weg auf den Bus. Es ist 7.15 Uhr und noch dunkel. Thomas, selbständig wie er ist, wird sich kurz nach 7.30 Uhr auf den Weg in die Greenwich-Grundschule machen. Du hast Heinz über die Straße gebracht, den Weg in die Kindertagesstätte findet er allein. Die Luft ist feucht, kein Schnee, die klamme Kälte kriecht die Ärmel hoch. Du bist aufgeregt, weißt nicht, was auf dich zukommt. Wieder zur Schule gehen wie deine Kinder.

Das schaffst du nie, wollte Aribert dich entmutigen, als er erfuhr, dass du eine Fortbildung zur Stenokontoristin machen willst. Steno mit deiner Handschrift, und Schreibmaschine … wenn du die Ausbildung schaffst, hast du meine Hochachtung. Du hast ja selbst Zweifel. Als dein Bruder damals den Fernkurs in Englisch und Maschineschreiben machte, dachtest du, das lernst du nie. Nicht mal im Traum hättest du daran gedacht, in Rolandseck eine Ausbildung zur Gutssekretärin zu machen wie deine Kollegin damals auf Schloss Reitzenstein.
Du steigst in den Bus und zeigst dem Fahrer deine Monatskarte. Der Bus ist voller Schüler. Auf dem Oberdeck darf geraucht werden. Schon Zwölfjährige saugen gierig den Rauch der ersten Zigarette ein. Du ergatterst einen Platz ganz vorn. Dort raucht niemand. Dafür dröhnt die Stimme des Busfahrers durch die Lautsprecher, der alle zwei Minuten die nächste Station ansagt.
Dass etwas ganz Neues für dich beginnt, ist einem Misserfolg zu verdanken. Du hättest gern noch einmal in einer der Reinickendorfer Kitas gekocht. Die erste Vertretung im MV war ein Erfolg. Du hattest Unterstützung und den Kindern schmeckte es. In der kleinen Kita in Tegel warst du allein in der Küche und die Kinder waren ziemlich verwöhnt. Die Antwort traf dich wie ein Schlag, als du dich noch einmal um eine Vertretung bewarbst. Wir stellen nur für diese Tätigkeit geeignete Personen ein, hieß es in dem Brief vom Bezirksamt Die Kitaleiterin hat dir ein schlechtes Zeugnis ausgestellt und damit die Weichen für dein Leben neu gestellt.
Am Kurt-Schumacher-Platz steigen die meisten Fahrgäste aus und fahren mit der U-Bahn weiter. Die ist um diese Zeit schon voll. Du sucht dir einen Wagen für Nichtraucher. An jeder Station speit die U-Bahn eine Meute Menschen aus und schluckt die auf dem Bahnsteig Wartenden. Du musst noch einmal umsteigen, bis du am Wittenbergplatz ankommst, wo die Ausbildungsstätte des Gewerkschaftshauses ist.

Frau Schwarz, blond und mollig, steht an der Tür und begrüßt nur Frauen , die sie erwartungsvoll ansehen. Männer sind für Höheres bestimmt, etwa zur Ausbildung als Buchhalter. – Ich unterrichte Sie in Schreibmaschine und Steno. Wir fangen in diesem Raum mit dem Unterricht an, später setzen wir uns in den Schreibmaschinensaal. Alle suchen sich einen Platz, Frau Schwarz ruft die Namen auf. Die Genannte steht auf, erzählt, was sie gemacht hat und was sie sich von der Umschulung erhofft. Eine hat in einer Metzgerei gearbeitet und will aus gesundheitlichen Gründen umschulen, Margret Kanold will nicht mehr als Schnittdirectrice stehen, zu ihrem Freund nach Bonn ziehen und dort im Büro arbeiten. Eine Frau aus Hermsdorf strickt während der langen Fahrt und wenn sie die Hände frei hat mit einer Rundnadel, um niemanden zu gefährden. Die junge Mutter will nicht mehr als Verkäuferin arbeiten. Die blonde Frau Fairbanks will sich auf eigene Füße stellen, weil ihre Kinder inzwischen in Kindergarten und Schule gehen. So hat jede ihren Grund die Ausbildung zu machen, um später im Büro zu arbeiten. Dann zeichnet Frau Schwarz den Stundenplan an die Tafel und erläutert, wie der Unterricht abläuft. Den kaufmännischen Unterricht erteilt Frau M,. sie kommt aus der Wirtschaft, also unmittelbar aus der Praxis. Zuletzt teilt sie die Lehrbücher aus. Eins für kaufmännisches Rechnen, für den Schreibmaschinenkurs ein Spiralheft und ein Heft mit dem Stoff in Stenographie.

Haben Sie alle einen Stenoblock und Stifte dabei?, fragt sie. Wir fangen gleich mit der ersten Lektion an. Frau Schwarz schreibt einige Kürzel an die Tafel, alle schreiben sie ab. Zuhause üben Sie dann und schreiben von jedem Kürzel eine Zeile. Es ist wie damals in der ersten Klasse, als du große und kleine Buchstaben auf die Tafel gekritzelt hast. Nach der Mittagspause geht es im Schreibmaschinensaal weiter. Als alle hinter einer der elektrischen Schreibmaschine sitzen, sollt ihr die Buchstaben asdf – jklö blind finden. Üben Sie zuhause. Sie haben doch alle Schreibmaschinen, oder? Die angeschlagenen Buchstaben klappern und die Bogen füllten sich.

Gegen 14.°° Uhr ist Schluss. Zweimal umsteigen, dann die Fahrt in dem kalten Bus. Völlig durchgefroren . Wasser in die Wanne laufen lassen. Ein warmes Bad. Das tut gut. Mit der Schreibmaschine stehst du auf Kriegsfuß, vertippst dich und musst immer wieder ein neues Blatt einspannen. Das ist ja nur der erste Tag, du wirst es schon noch lernen, tröstest du dich.

Morgens an der Bushaltestelle triffst du öfter Urs, der zur Arbeit fährt. Ein Stück mit der U-Bahn fahrt ihr gemeinsam, bis du am Leopoldplatz umsteigen musst. Manchmal bleibst du auch in der U 6 sitzen. Die Fahrt dauert nicht länger, aber es ist gespenstisch, durch den Ostteil der Stadt zu fahren. Der Zug durchquert mit gedrosseltem Tempo die spärlich beleuchteten Bahnhöfe, die menschenleer vorbeigleiten.

Das Umgang der künftigen Sekretärinnen ist freundschaftlich. Manchmal trifft sich der Kurs in einem Lokal. Dass sich der Mann einer Schweizerin schützend vor dich stellt, als dich ein fremder Mann belästigt, freut dich. Eine der Frauen bemängelt, dass du ungeschminkt zum Unterricht kommst. Du hast weiß Gott Besseres zu tun mit zwei Kindern, die du morgens fertig machen musst. Margret Kanold, die mit ihrem Alter schuumelt, lädt dich zu einem Sherry ein. Sie wohnt vorn an der Straße: ein Zimmer, Küche und Bad. Sie ist zierlich, hat dunkle Haare und winzige strahlend blaue Augen. Als sie erzählt, ein Mann habe ihr wegen ihrer Augen Komplimente gemacht, weißt du nicht, was du antworten sollst. Ihr trinkt immer noch Gläschen, bis die Flasche halb leer ist. Als du aufstehst, bist du beschickert, findest aber den Weg über den Parkplatz.
Auch Frau Fairbanks, die in der Rödernallee im Haus ihrer Mutter wohnt, lädt dich ein. Sie ist fast am gleichen Tag wie du geboren, mit einem englischen Journalisten verheiratet und will sich scheiden lassen, weil er impotent ist. Doch sie kostet es aus, sich mit ihm auf dem Berliner Presseball in ihrem roten Abendkleid zu zeigen. Das Erdgeschoss ist mit Kisten und Möbeln zugestellt und du bahnst dir den Weg zur Treppe zur Wohnung im ersten Stock. .Im Wohnzimmer sind noch Spuren eines Brandes zu sehen. Ja, da hat der Adventskranz gebrannt. Ich konnte das Feuer gerade noch löschen, ohne die Feuerwehr rufen zu müssen. Aber im Tisch ist noch ein Loch.

Es ist inzwischen Februar und du bist jeden Werktag zum Wittenbergplatz und zurück gefahren. Fasching. Den feierst du mit der Elterninitiative-Gruppe bei Familie Arend. Der Vorabend deines Geburtstags. Du hast eine hellblaue Langhaarperücke, ein glitzerndes Kleid und Metallic-Strumpfhosen gekauft. Monika, die du immer noch mit Frau Nolde ansprichst, macht es Spaß, dich als verführerische Nixe zu schminken. Wie die kleine Meerjungfrau in Andersens Märchen bleibst du den ganzen Abend stumm. In den Tanzpausen versuchen fast alle dich zum Reden zu bringen. Es ist vergebliche Liebesmüh. Erst als um Mitternacht zu deinem 35. Geburtstag angestoßen wird, brichst du dein Schweigen. Alle gratulieren dir und versichern: Dass du es so viele Stunden durchhältst, ohne ein Wort zu sagen, hätten wir nicht gedacht.

Zwischen elektrischer Schreibmaschine zur mechanischen zu wechseln oder umgekehrt, ist schwierig. Auch im Rhythmus von Musik zu schreiben, gelingt nicht. Mit Stenografie kommst du besser zurecht. Mit spitzem Bleistift gewöhnst du dir eine kleine Schrift an, kannst den Diktaten folgen und sie in die Maschine übertragen.

In der Mittagspause geht ihr ins Gewerkschaftshaus essen, manchmal auch ins KADEWE, wo es preiswertes Mittagessen gibt. Weil der Kurs zehn Monate dauert, sind im Sommer zwei Wochen bezahlte Ferien. Schön, auszuspannen und nicht an die im Herbst drohende Prüfung zu denken. Du machst mit deinen Kindern Ausflüge und Dampferfahrten.

Zwei Monate vor der Prüfung borgst du dir eine elektrische Olivetti, um mehr Übung zu bekommen. Du übst eifrig. Doch dann passiert ein dummes Unglück. Aribert wollte ein zweites Regal bauen. Die Bretter stehen noch an der Wand im Wohnzimmer. Eins davon stürzt um und fällt auf die Schreibmaschine. Zum Glück kann deine Freundin Tutti über ihre Haftpflichtversicherung die Rechnung übernehmen. Obwohl der Wagen nach der Reparatur noch immer hakt, nimmt die Firma die Maschine zurück.
Ende Oktober ist es soweit. Du hattest noch nie Prüfungsangst und bestehst die theoretische Prüfung in Mathematik und Deutsch gut. Doch als du das Stenogramm in die Maschine übertragen sollst, zittern deine Hände. Eine Prüferin, die dir auf die Finger schauen soll, wendet sich diskret ab. Du brauchst viel länger als nach Kriterien der Handelskammer erlaubt ist und erhältst für das Maschineschreiben gerade noch ein ‚ausreichend‘.
Einige Frauen haben schon vor dem Ende der Ausbildung einen Arbeitsplatz. Du bist unsicher und meldest dich arbeitslos, bewirbst dich aber einige Wochen später um eine Stelle in einer Fachhochschule. Weil Schreibkräfte gesucht sind, erhältst du eine Zusage.
Ehe du als Verwaltungsangestellte zugleich Schreibkraft – welch Ungetüm von Berufsbezeichnung – eingestellt wirst, musste du eidesstattliche Erklärungen unterschreiben. Dein Arbeitsplatz ist im Büro eines Beamten und einer Assistentin z.A. Fräulein Schmidt liest in der Frühstückspause die Bildzeitung, Herr Schelski die BZ, in der Mittagspause tauschen sie dann die Zeitungen. Gleich am ersten Tag triffst du Frau Reschke. Sie hat die kürzere Ausbildung zur Stenotypistin gemacht und ist seit dem 1. September an der FH. Der Dienst beginnt um 8.°° Uhr. Die Busver­bindung ist günstig und du kannst fast von der Haustür weg in den Wedding fahren. Gleitzeit ist noch ein Fremdwort. Wenn du den Bus um 7.30 Uhr verpasst, kommst du zu spät. Oft steht Verwaltungsleiter Heim vor der Zimmertür und sieht dich. Wie peinlich.

Du musst Listen mit als sachlich richtig gezeichneten Rechnungen schreiben, die zur Überweisung der Beträge weitergeleitet werden. Weil du dich oft vertippst, schreibst du die Listen zwei-, dreimal, wenn Radiergummi oder Tippex nicht aus­reichen. Manchmal wirst du zum Diktat gerufen. Beim Dienstantritt warst du überrascht, als du in einem Kollegen den Mann einer Sachbearbeiterin vom Arbeitsamt erkennst. Der blonde braungebrannte Mann war dir aufgefallen, als er seine Frau zum Essen abholte. Herr Köritz diktiert dir die Namen von Geräten für einen Investi­ti­ons­antrag. Als du das Kürzel für Hochgeschwindigkeitskamera nicht entziffern kannst, musst du fragen. Das ist peinlich und deshalb trainierst du dein Gedächtnis, die Worte zu merken, auf die es ankommt. Dabei müsste dir Herr Köritz nur seine Notizen geben. Die Texte von Herrn Heim vom Diktiergerät abzutippen, ist leichter. Bis du dein ein erstes Gehalt bekommst, wird es Weihnachten. Du hast noch ein Guthaben vom Senatskredit und kommst über die Runden.

Dass du in der Elterngruppe engagiert bist, macht das Leben leichter. Als Alleinerziehende unter den Ehepaaren bist du aber wie ein bunter Vogel. Zu Urs fühlst du dich wie zu den meisten Krebsmännern hingezogen, hältst aber Abstand. Du schreibst auf Anzeigen in der Morgenpost oder im Tagesspiegel und wirst oft enttäuscht. Da entdeckst du Ende Juni in der Brigitte eine von einem Bankräuber aufgegebene Anzeige, die dich anspricht. Nach drei Wochen liegt endlich eine Antwort in deinem Briefkasten. Ein Zufall, dass Lambert Volland dir geschrieben hat. Wenn ein Strafgefangener eine Anzeige aufgibt, werden alle Zuschriften verteilt. So erhält jede Frau eine Antwort, wenn auch nicht von dem Inserenten. Vermutlich wundert sich manche, dass der Mann weder 1,80 groß , noch romantisch und auch kein Bankräuber war.

Du weißt, wie eine Haftanstalt von innen aussieht. Als dein Ex-Mann inhaftiert war, hast du öfter das Aufschließen – Zuschließen beim Gang durch dieTore erlebt, bist aber nie im Zellentrakt gewesen, immer nur im Besucherraum. Aber eine Odyssee durch NRW. Zuerst nach Gelsenkirchen, nach Horsts Verurteilung dann in Essen. Zwei Jahre. Zwei Jahre hast du dir als Ultimatum gesetzt. Sonst lasse ich mich scheiden. Die Fahrten nach Anrath bei Kempen-Krefeld dauern immer länger als eine Stunde. Du musst dir Urlaub nehmen, wenn du keinen Wochendtermin bekommst. Dann wieder woanders. Münster. Das ehemalige Zuchthaus ist in der Gartenstraße, der längsten der Stadt, weil manche Häftlinge die Straße nur im Sarg verlassen.

Wie Lambert es damals erlebt, versuchst du hier nachzuzeichnen:
Er steht in der Schlange vor der Wäscheausgabe der Haftanstalt. Alle zwei Wochen tauschen die Insassen schmutzige Wäsche und Arbeitskleidung gegen saubere um. Wer will, bekommt ein Nachthemd, aber keinen Schlafanzug.
Lambert legt ab und zu seine Hand auf die Jackentasche, in der ein knappes Dutzend Briefe steckt, die von der Poststelle verteilt wurden, verschieden große und farbige Umschläge mit ihm unbekann­ten Absendern. Er sitzt bereits über sechs Jahre ein, wegen Bankraubs verurteilt wie seine beiden Freunde, mit denen er manch abenteuerliches Ding gedreht hat. Es ist nicht die erste Freiheitsstrafe. Als Lehrlinge haben die drei bei VW in Wolfsburg am Ende des letzten Lehrjahres Volkswagen verschoben und es so geschickt angestellt, dass sich der Richter, der sie zu einer Jugendstrafe verdonnert, das Lachen fast nicht verbeißen kann.

Weil sich alle drei danach nur mühsam ins bürgerliche Leben einfügen können, das so ohne jeden Nervenkitzel ist, lassen sie sich auf illegale Geschäfte ein und verschieben Luxuslimousinen in die Tschechoslowakei. Dann muss mehr Geld her, und wo gibt es das? Natürlich auf der Bank, man muss es nur schlau einfädeln. Fast kommen sie ungeschoren davon, hätte sie nicht ein Mitwisser bei der Polizei verraten. Auch das erbeutete Geld müssen sie zurück geben. Lambert sieht sich um: Er überragt die meisten Männer, von denen viele apathisch warten, die gebrauchte Wäsche vor den Augen des Wärters Stück für Stück in den Korb zu werfen und die neue in Empfang zu nehmen. Wie oft hat Lambert schon hier gestanden? Die mehr als sechs Jahre erscheinen fast endlos. Wenn er Glück hat, muss er noch sieben Monate hinter den Mauern verbringen, bis er auf Bewährung entlassen wird. Eine Arbeitsstelle in einer Werkzeugfabrik hat er schon in Aussicht. Ihm ist klar, dass er sich nicht mehr auf kriminelle Abenteuer einlassen darf, weil ihm sonst Sicherheits­verwahrung droht.

Endlich ist er dran. Er kann kaum erwarten, in sein „Zimmer“ zu kommen, das er wohnlich eingerichtet hat. An einer Wand ein Bü­cherregal, an der anderen selbst gemalte Bilder. Klosett und Gitterstäbe müssen großzügig übersehen werdem. Als der Wärter die Türe von außen verschlossen hat, setzt sich Lambert an den Tisch, holt die Briefe aus der Jackentasche, elf Antworten auf seine Anzeige in der Frau­enzeitschrift. Es hat einige Überzeugungsarbeit gekostet, dass Brigitte den Text druckte: Bankräuber, 1,86, Nichtraucher, romantisch, mittellos, freut sich auf Zuschriften von unvoreingenom­menen Frauen. Die Redaktion hat sich an dem Wort Bankräuber gestoßen.

Es gibt also vorurteilslo­se Frauen, die einen Bankräuber kennenlernen wollen. Die Briefe sind von dem zuständigen Beam­ten geöffnet, mit Eingangsstempel versehen, abgezeichnet in die Umschläge zurück gesteckt worden. Lambert liest sie nacheinander und legt drei, von denen er sich angesprochen fühlt, auf die Seite. Die übrigen gibt er am nächsten Tag in der Arbeitspause an Mithäftlinge weiter. Er kommt sich dabei wie ein Magier vor, der Frauen aus dem Hut zaubern kann.

Aber erst trifft er sich noch mit seinen Leidensgenossen zum Schachspiel. Wieder in seiner Zelle, setzt er sich an seine Reiseschreibmaschine und schreibt drei Antwort­briefe mit der Anrede: Liebe Freundin jenseits des Zauns, wie er die Mauer nennt, als gäbe sie den Blick nach draußen frei. Er hofft, dass sich keine an der der Kleinschreibung stößt, er braucht die Umstelltaste nur für Anführungs-, Ausrufen oder Fragezeichen. Er fügt den Antwort­briefen einen Lebenslauf bei, aus dem seine kriminelle Karriere ersichtlich ist und eine Ausgabe der Gefangenenzeitschrift Lichtblick. Ein Foto opfert er erst, wenn es sich lohnt. Nun wartet er gespannt auf ein Echo.

Du bist eine der Frauen, denen er persönlich schreibt.Gelbes stabiles Maschinenpapier, nur Kleinbuchstaben. Ein beeindruckender Lebenslauf. Weil du mehr über ihn wissen willst, fährst du zum Tagesspiegel und kriegst eine Mappe mit Zeitungsausschnitten, in denen Lambert V. nicht sehr gut wegkommt. Davon lässt du dich nicht beeindrucken, weißt du doch aus Erfahrungen mit deinem Ex-Mann, wie Zeitungen über Straftäter und ihre Untaten berichten. Die Ausschnitte im Archiv der Morgenpost sind weniger aufschlussreich. Als in deinem Briefkasten kein Umschlag mehr aus Tegel landet, denkst du, na ja, wer weiß wofür das gut ist.
Im November rechnest du nicht mehr mit einer Nachricht. Ohne Erklärung oder Entschuldigung schreibt er:
liebe Edeltraud:… von den verbindungen, die sich entwickelt hatten, sind sie als einzigste verblieben. so sieht es jedenfalls aus. … ich finde es ganz prima, dass sie eine leidenschaftliche und sinnliche Frau sind. ich liebe zärtlichkeiten über alles“.
Er schreibt jeden Tag oft mehrere Seiten. Im dritten Brief geht er vom Sie zum du über. Die Zahl der Briefe ist nicht beschränkt, er muss nur das Porto zahlen. Du antwortest so oft du es als berufstätige Mutter schaffst. Die Briefe werden oberflächlich kontrolliert. Nur ein Brief, in dem du über einen brisanten Vorgang in Tegel schreibst und einen Zeitungsartikel beilegst, wird ihm nicht ausgehändigt. Das, was an Liebesbeteuerungen in jedem Brief steht, lässt dich jedes mal zittern, wenn du einen aus dem Kasten holst. Wenn du in deiner Wohnung den Umschlag öffnest, schwelgst du in romantischen Gefühlen. So süße, zärtliche, fast kitschige Briefe hast du dir vergeblich gewünscht. Auch Lambert ist überzeugt, nie eine Frau so wie dich geliebt zu haben. Auch Schwierigkeiten und Probleme werden nicht verschwiegen.

Du schickst Lambert, dem Katzenliebhaber, eine Brigitte mit einer Vorher-Nachher-Reportage von 1968. Es bereitete dir diebische Freude, ihn zu überraschen, statt ihm Fotos von dir und deinen Söhnen zu schicken. Kurz vor Weihnachten bekommt er einige Tage Freigang und du erlebst mit ihm die heißeste Liebesnacht deines Lebens. Deine Söhne hast du bei einer Bekannten untergebracht. So hast du sturmfreie Bude. Wochen vorher hat Lambert dir über einen Versand einen Vibrator zukommen lassen. Dass sein Schwanz etwas kurz geraten ist, weißt du. Er hat dich nicht vor vollendete Tatsachen gestellt, sondern in einem Brief die Umrisse seines besten Stückes eingezeichnet.

Du wartest auf ihn in einem durchsichtigen roten Negligé. Dein Herz klopft als die Klingel schrillt. Bis Lambert vor der offenen Wohnungstür steht, kannst du noch durchatmen. Als du dann neben ihm auf dem Sofa sitzt, bist du zurückhaltend. An seine etwas näselnde Stimme musst du dich gewöhnen und dass die Haut an seinem Kinn bereits durchhängt, stört dich auch. Doch langsam werdet ihr warm. Nach sechs Jahren Haft völlig ausgehungert, weckt er deine Lust. Nicht nur sein Verlangen wird stärker. Er erfüllt all deine Wünsche, wie er es in seinen Briefen ausgemalt hat. Ihr hört nach dem zehnte Mal auf zu zählen. Dein Bauch vibriert, dein ganzer Körper ist eine erogene Zone, wo er dich auch berührt, zuckst du zusammen und biegst dich ihm entgegen. Wonnen, mit Worten schwer zu beschreiben. Du hättest aber als Beobachterin neben dir stehen können und fragen, ist diese Lust, dieses Entzücken, dieses durchgeschüttelt-Sein noch zu steigern? Schließlich schlaft ihr erschöpft ein. Beim Aufwachen versinkt ihr wieder ineinander. Nach dem Frühstück wieder allein, liegst du im Bett, schreibst das Erlebte in den Stenoblock, liest es und lässt den Vibrator die Erinnerung wachrufen.

Lamberts Briefe werden immer noch zärtlicher und inniger. Von gemeinsamer Zukunft, vom Verreisen und von ewiger Liebe ist die Rede. Als er im Januar den letzten Freigang vor der Entlassung bekommt, fährt er gleich von der Seidelstraße zu dir ins MV. Beide Besuche hätten ein Nachspiel haben können, hat doch ein Vollzugsbeamter freien Blick in dein Balkonfenster.

Du hast dir freigenommen. Lambert im roten Smoking, in dem er festge­nommen wurde, und einen weißen Pullover. Der Zauber fehlt, der euch vor Weihnachten gefangen nahm. Lambert hat einiges zu erledigen. Ihr fahrt in die Stadt, er macht seineBesorgungen und dann trinkt ihr im KADEWE einen Kaffee.

Nach seiner Entlassung trefft ihr euch für ein Wochenende. Er besorgt dir eine Waschmaschine. Die Gesobau hat Waschhäuser eingerichtet. Für die Benutzung wird gleich ein Betrag mit der Miete eingezogen. Ab Januar 1972 muss man die Wäsche nicht mehr im Waschhaus waschen. Es ist für ganztägig Berufstätige nicht einfach, weil es kaum Abend- und Wochenendtermine gibt. Endlich kannst du die Wäsche nebenbei waschen. Dann verreist Lambert geschäftlich. Er verspricht dir zu schreiben und dich an deinem Geburtstag zu besuchen. Doch du wartest vergeblich auf eine Nachricht. Deshalb rufst du bei seiner Schwester an. Ihre Tochter ist am Telefon und erzählt, Lambert ist wieder zurück und hat sich mit einer Frau getroffen, und kommt bald zu ihrer Mutter. Lambert ist wieder in Berlin ohne sich zu melden. Es trifft dich wie ein Schlag. Eine Migräne pocht über deinen Augen. Du hältst am Wilhelmsruher Damm ein Taxi an, um nach Neukölln zu fahren. An der U-Bahn-Station Leinestraße steht Lambert plötzlich hinter dir und nimmt dich in den Arm. Was tust du denn? Hast du kein Vertrauen? Wenn ich sage, dass wir uns an deinem Geburtstag sehen, halte ich das auch. Ich hab dir doch eine Karte geschrieben. – Die hab ich aber nicht bekommen. Er nimmt dich mit in die Einzimmerwohnung, die er sich inzwischen besorgt hat. Sein goldenes Kaffee-Service, auf das er so stolz ist, hat die Zeit seiner Abwesenheit überlebt.

Lambert hat noch kein eigenes Telefon – erst muss er die 300 DM bezahlen, für die Fremde nach seiner Verhaftung in seiner verlassenen Wohnung telefonierten. So rufst du manchmal bei seinem Schwager, einem Taxi-Unternehmer an. Das lassen Sie mal schön sein, weist der dich zurecht.

Lambert besucht dich noch einige Male. Ein Hauch der Faszination blitzt wieder auf. Manchmal schaltest du den Elektroherd aus. Einmal trägt dich Flur entlang ins Schlafzimmer. Horst hat dich nach der Trauung nicht über die Schwelle getragen, obwohl er stark und bis zu seiner Flucht auch nicht auf Händen getragen. Dann fährt Lambert nach Prag, wo eine frühere Freundin Ansprüche an ihn stellt und ihm vortäuscht, sie liebe ihn noch. Erst später erfährt er, dass sie einen Freund hat und nur in den Westen wollte. Ich kann nicht wie ich will, ich habe noch Verpflichtungen, und keine Zeit für ein Treffen, beteuert Lambert danach immer wieder. Enttäuscht verabschiedest du dich von den Illusionen, die ihr in den Briefen entfacht habt. Papier ist geduldig. Als er sich im Sommer wieder meldet, braucht er Geld. Dass du ihm etwas leihen kannst – du hast eine Wohngeldnachzahlung bekommen – daran hat er nicht gedacht. Du rechnest dir aus, dass er sich deshalb die Zeit nimmt, zu dir ins MV zu kommen. Er erwartet, dass du wieder mit ihm ins Bett hüpfst. Doch du sagst nein. Das würde nur falsche Hoffnungen bei dir wecken. Nun, zwingenwill ich dich nicht, sagt er enttäuscht. Er zahlt das Geld pünktlich in Monatsraten zurück. Privat hat er eher immer drauf gezahlt, seine Maxime ist, keinen Menschen privat zu schädigen.

Lambert istals Widder jemand der etwas auf die Beine stellt. Seine private Telefon-Nummer findest noch einige Jahre im Telefonbuch. Als du ihn einmal anrufst, erzählt er, dass er mit der Tochter eines Geschäftspartners in Ungarn verheiratet ist und unter ihrem Namen eine Firma eröffnet. Obwohl du seit 1980 nur drei Stationen von dieser Firma entfernt wohnst, seht ihr euch nicht wieder. Du bist ihm nicht gram. Diese eine Nacht bleibt unvergesslich. Du sprichst aber nicht so gern darüber, weil es unglaubhaft klingt. Vielleicht lauft ihr euch noch einmal über den Weg, oder auch nicht.

Als du im Juni 1970 mit dem Fahrrad gestürzt bist, hast du dir einige Zähne ausgeschlagen. Im März 1972 brechen zwei Zähne der Prothes ab und du musst drei Tage ohne Zähne ins Büro. Du schämst dich, obwohl es kaum zu merken ist. Trotzdem weinst du so bitterlich, dass du später keine Träne mehr vergießt, wenn deine Zähne mal wieder in Reparatur sind

Du hast ein Buch über Farbpsychologie gelesen. Es hat dich so beeindruckt, dass du im Sommersemester 1973 einen Kurs in Farbpsychologie an der VHS Charlottenburg buchst. Der etwa siebzigjährige Dozent vermittelt das Thema sehr lebendig. Du erzählst Herrn Cohn, dass du die Menschen nicht nur über ihre Farbwahl, sondern auch über ihre Schrift einzuschätzen versuchst. Er kennt eine Graphologin, die Schriften psychologisch deutet. Ihr Mann hat im Tagesspiegel als freier Journalist Artikel über Farbpsychologie geschrieben, aus denen Herr Cohn zitiert. Wann genau du Frau L. das erste Mal anrufst, weiß du nicht mehr. Du schickst ihr die handschriftlichen Briefe, die du auf Heiratsanzeigen erhältst und fragst sie um Rat.

Von der Arbeit an der Schreibmaschine und dem nicht sehr gesunden Klima im Eisenbeton der Häuser im MV kriegst du wie damals in Gufflham eine steife Schulter und kannst deinen Kopf nicht drehen. Dazu kommen Kreuzschmerzen und Hexenschuss. Der Orthopäde rät dir, einen Antrag auf eine Kur zu stellen, der auch bewilligt wird. Als das Schreiben mit dem genauen Termin kommt, liegt Thomas mit gebrochenen Armen im Krankenhaus. Er ist in den Osterferien im Tegeler Forst vom Baum gefallen. Er und sein Freund sind auf eine schräg stehende Kiefer mit glatter Rinde geklettert. Christoph klettert vorsichtig zurück, aber Thomas rutscht ab. Du siehst wie in Zeitlupe, wie er fällt und sich mit den Armen abfangen will. Obwohl der Boden nicht hart ist, bricht er sich beide Arme, am rechten Unterarm ist der Knochen zu sehen. Du trägst ihn aus dem Wald, weiß aber nicht mehr, ob du einen Krankenwagen rufst oder ihr mit dem Bus ins Krankenhaus fahrt.

Wohin mit den Kindern? Als du dein Problem in der Gruppe ansprichst, erklärt sich die Ärztin Sigrid bereit, sich um Thomas zu kümmern. Gesine nimmt deinen kleinen Sohn für die vier Wochen in Pflege. So kannst du beruhigt nach Bad Oeynhausen fahren. Die täglichen Anwendungen, Gymnastik und Übungen verursachen erst so eine Verschlimmerung, dass du nicht weißt, wie du liegen, stehen oder sitzen sollst. Der Kurarzt gibt dir Spritzen, und die Bewegung im Solebad bewirken, dass du dich nach einigen Tagen wieder bewegen kannst. Es ist Mai und wunderschönes Wetter. Leider wohnst du ein knapp außerhalb der Kurzone in einem Eckhaus unmittelbar an einer Ampelanlage. So schön das Einzelzimmer ist, so schlecht schläfst du wegen der Ruhestörungen durch die anhaltenden und anfahrenden Autos.

Abends ist nur bis 22.°° Uhr Ausgang. Deshalb gehen die Kurgäste frühzeitig ins Kurhaus zum tanzen. Eines Abends fordert dich ein Hamburger Architekt auf, der einen Herzinfarkt auskuriert. Ihr tanzt miteinander, als hättet ihr das schon immer getan. Hugo Krause erzählt gerne und viel. Dass er ein Buch geschrieben hat und sein nächstes „Keine Angst vor Kuren“ noch im Herbst unter Pseudonym erscheint. Er hat seinen neuen Ford dabei, … eine Klapperkiste, das nächste Mal kaufe ich mir wieder einen Mercedes. Ihr fahrt ins Weserbergland. Dass ihr anhaltet und euch im Wald neben einem Golfplatz dem Liebesspiel hingebt, ist durchaus in deinem Sinn. Hugo hat einen kurzen Penis, weiß aber damit umzugehen, muss aber bemängeln, dass deine Brüste seitlich abrutschen, sie sind ja nicht winzig oder durch Silikonimplantate verstärkt. Obwohl es dich verletzt, trefft ihr euch im Kurhaus zur Vorstellung der sächsischen Jakob-Sisters, die nur noch zu zweit tingeln.

Als du nach der vierten Woche zurück fahren musst, verpasst du fast den Bus, weil sich Hugo nicht trennen kann. Er erwartet, dass du ihn tagsüber in seiner Dienststelle in Harburg anrufst. Zuhause in Stade kann jeder mithören, weil ich alle Telefone auf Lautsprecher eingestellt habe. Ein paar mal rufst du ihn nachmittags von einer Telefonzelle an, bis es dir zu teuer wird, wenn die Münzen nur so durchrauschen. Im nächsten Jahr bekommst du von ihm eine Ansichtskarte aus einem Kurort. Ihr hört eine Zeitlang nichts voneinander. 1979 ruft er dich vor Ostern aus Bad Lauterberg an: Kannst du über die Feiertage in den Harz kommen? (Kein Wort, dass er die Reisekosten trägt.) Nein, ich habe einen festen Freund. – Der muss es ja nicht erfahren. Du empfindest sein Verhalten gelinde gesagt als Frechheit. Er verabschiedet sich verärgert und meldet sich nie wieder.

Die Mitarbeit in der Elterninitiativgruppe machte dir Spaß und du schreibst die Protokolle. Dass auf den Sitzungen geraucht wird, ist weniger schön. Der Schweizer Bildhauer Bernhard Luginbühl stellt im Sommer 1973 in der Nationalgalerie am Potsdamer Platz seine wuchtigen stählernen Plastiken aus. Er spendet die für die Inbetriebsetzung des riesigen Atlas vor dem Gebäude eingenommenen Markstücke für den Abenteuerspielplatz am Königshorster Weg. Hagen Hoppmann, einer der Väter, nimmt dich zur Vernissage mit, zu der Luginbühl ein riesiges Büfett mit Schweizer Spezialitäten, Bündner Fleisch, Käse und Fondant-Wein auftischt. Du sitzt neben einem von Luginbühls Assistenten und flirtest auf Teufel komm raus mit dem feschen Berner. Luginbühl lädt seine Besucher dazu ein, seine Skulpturen anzuschauen, anzufassen, zu besteigen und damit zu spielen. Eisenschrott – poetisch – künstlerisch – ist unverwüstlich. Du fühlst dich fast wie ein Kind, so große Freude macht es, die Plastiken nicht nur anzuschauen. Obendrein bekommst du ein Exemplar des Ausstellungskatalogs.

Wie aufregend, ein Stück Zeitgeschichte mitzuerleben. Weil Ulrike Meinhoff Kontakt mit verschiedenen Gruppen im Märkischen Viertel hatte, wird auch dort nach ihr gesucht. Als im Herbst der Film Der Lange Jammer gedreht wird, bittet Max Willutzki die Mitglieder der Elterninitiave mitzuspielen. So stehst du abends in einer Menschenmenge und musst in einer Szene zu einem Studenten sagen: Was willst du denn hier? Wohnst du überhaupt hier? Ein halbes Jahr später, als der Film abgedreht ist und ins Kino kommt, kriegst du wie alle anderen Komparsen ein kleines Honorar.