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Ingeborg Rapoport

 

Aus Kamerun in die Weimarer Republik

Sie wurde als Ingeborg Inge Syllm am 2. September 1912 in Kribi, Kamerun geboren – zu dem Zeitpunkt war Kamerun deutsche Kolonie.

Schon kurz nach Inges Geburt kehrte die Familie nach Deutschland zurück und wählte Hamburg zu ihrem Wohnsitz. Ihre Eltern waren der Hamburger Kaufmann Paul Friedrich Syllm (Sillem) und die Konzertpianistin Maria Feibes.

1928 ließen sich die Eltern scheiden. Maria Feibes arbeitete als angesehene Klavierlehrerin, um allein für ihre Mutter und ihre beiden Kinder Inge und Hellwig (1909–2004) zu sorgen, denn Paul Syllm kam nicht für den Unterhalt seiner Familie auf, nachdem er das Vermögen seiner Frau verbraucht und sie mehrere Jahre lang betrogen hatte.

Im September 1933 konvertierte die protestantische Maria Feibes zum Judentum, der Religion ihrer Mutter, auch um damit ein Zeichen gegen die politische Entwicklung in Deutschland zu setzen. Die Arbeitsstelle als Musiklehrerin an der Hamburger Klavierakademie Hans Hermanns verlor sie 1935 durch den Ausschluss aus der Reichsmusikkammer.

Ingeborg Rapoport besuchte in Hamburg zwar das private Heilwig-Lyzeum, fühlte sich dort aber isoliert, da sie durch Nachhilfestunden das Familieneinkommen aufbessern musste. Das anschließende Medizinstudium schloss sie 1937 mit dem Staatsexamen ab. Dabei musste die Prüfungsarbeit auf Prüfungspapier mit gelbem Randstreifen angefertigt werden, was sie als Jüdin kennzeichnete. Anschließend war sie von 1937 bis 1938 als Assistenzärztin am Israelitischen Krankenhaus Hamburg tätig.

Während dieser Zeit fertigte sie bei Rudolf Degkwitz ihre Dissertationsschrift über Lähmungserscheinungen infolge von Diphtherie an. Die Zulassung zur mündlichen Doktorprüfung und damit die Promotion wurden ihr jedoch 1937 von den nationalsozialistischen Hochschulbehörden in Deutschland verweigert, da sie aufgrund ihrer jüdischen Großeltern mütterlicherseits als jüdischer Mischling ersten Grades eingestuft und ihr damit die Studienberechtigung nachträglich aberkannt wurde.

Insgesamt mussten in Hamburg 16 Professoren und Privatdozenten der Medizinischen Fakultät ihre Positionen aufgeben, von 52 jüdischen Studenten waren 1938 nur noch vier übrig.

Studentin Inge

Aus Nazideutschland in die USA

Im September 1938, kurz vor der Pogromnacht, emigrierte Ingeborg auf Veranlassung ihrer Mutter, die ihr im Januar 1939 nachfolgte, in die Vereinigten Staaten. In den USA wurde ihr Staatsexamen nicht anerkannt, so dass sie zwei weitere Jahre am Women’s Medical College of Pennsylvania in Philadelphia studierte, was sie sich nur leisten konnte, weil sie ein Hearst-Stipendium erhalten hatte.

Von 48 medizinischen Hochschulen, an denen sie sich beworben hatte, hatten nur zwei geantwortet und sie zu einem Gespräch eingeladen. Die Columbia-Universität hatte sie wegen ihrer Mittellosigkeit abgewiesen:

„Für immer sehe ich das riesige Managerzimmer des Dekans der Medical School vor mir, den übergroßen Schreibtisch und die riesigen Sessel. Er bat mich, Platz zu nehmen, und prompt versank ich im dunkelbraunen Leder. Dann stellte er mir eine einzige Frage: ‚Wieviel Geld haben Sie?‘ Und als ich ihm antwortete ‚Gar keins‘, erhob er sich aus seinem Sessel hinter dem Schreibtisch und sagte höflich und bestimmt: ‚Dann brauchen wir kein weiteres Wort miteinander zu wechseln.‘ “

Sie war neben dem Studium bis 1940 als Assistenzärztin in Brooklyn und Akron, Ohio tätig, bis sie 1940 den Medical Doctor erwarb, einen beruflichen Abschluss, der nicht der deutschen Promotionsleistung entspricht. Sie spezialisierte sich in der Folgezeit an verschiedenen Einrichtungen im Fachgebiet Pädiatrie. Damit war es Inge Rapoport wie nur wenigen geflüchteten jüdischen Medizinern gelungen, in den Vereinigten Staaten beruflichen Erfolg zu finden. An der University of Cincinnati lernte sie 1944 Samuel Mitja Rapoport kennen. Sie heirateten 1946.

Ingeborg Rapoport, die später wie ihr Ehemann Mitglied der Kommunistischen Partei der USA wurde, engagierte sich in Amerika politisch gegen Rassendiskriminierung. Unter dem Eindruck der Rassentrennung in den USA wurde sie nach eigenen Worten „von der gläubigen Christin zur gläubigen Kommunistin“. Sie verteilte an Wochenenden mit ihrem Mann die Zeitung „The Worker“ 1950 unterschrieben beide den Stockholmer Appell zur Ächtung von Atomwaffen. Die Presse von Cincinnati unterstellte dem Ehepaar zunehmend subversive Aktivitäten.  Unter anderem wurde der Vorwurf erhoben, ihr Mann habe einen Anschlag auf die Wasserversorgung von Cincinnati geplant. Seine politischen Auffassungen polarisierten Mitarbeiter und Berufskollegen. 

Als in dieser Zeit, der McCarthy-Ära, das House Un-American Activities Committee Ermittlungen gegen sie und ihren Ehemann einleitete, verließen sie 1950 die USA.

 

Die junge Familie

Aus McCarthy-USA in die DDR

Während eines Kongresses in der Schweiz im Jahre 1950 war ihr Mann per Telegramm darüber informiert worden, dass er Ziel der McCarthy-Kommission sei, und er kehrte daher nicht in die USA zurück. Die hochschwangere Inge Rapoport holte die Kinder aus den Vereinigten Staaten nach Zürich.

Sie ließen sich zunächst in Österreich nieder. Als Antizionisten kam eine Auswanderung nach Israel für beide nicht in Frage, obwohl das Weizmann-Institut in Israel Mitja eine Stelle angeboten hatte. Auch die Bundesrepublik Deutschland war für beide ausgeschlossen, da „zu viele Angehörige brauner Seilschaften sich trotz des Zusammenbruchs in den neuen Staat hinübergerettet […] und dort bereits wieder wichtige Positionen besetzt (hatten).“

Die Universität in Wien lehnte jedoch eine Professur für Mitja ab, da die CIA nach Darstellung von Rapoport über eine schwarze Liste intervenierte. [Die CIA hatte gedroht, der Universität die US-Subventionen zu streichen.

Im Jahr 1952 zog die Familie in die Deutsche Demokratische Republik, wo man Samuel Mitja Rapoport eine Professur an der Charité in Berlin angeboten hatte. In den folgenden Jahrzehnten wurde er zu einem der bekanntesten Biochemiker des Landes. Ingeborg Rapoport wirkte zunächst als Oberärztin am Hufeland-Krankenhaus in Berlin-Buch, wo sie 1953 ihre Anerkennung als Fachärztin für Kinderheilkunde erhielt. Anschließend arbeitete sie in der experimentellen Forschung am Institut für Biochemie der Humboldt-Universität zu Berlin, an der sie sich 1959 habilitierte.

Von 1959 bis zu ihrer Emeritierung im Jahr 1973 war sie an der Kinderklinik der Charité tätig, darunter ab 1960 als Dozentin. 1964 wurde sie als Professorin mit Lehrauftrag habilitiert. 1968 wurde sie ordentliche Professorin für Pädiatrie und 1969 Inhaberin des ersten europäischen Lehrstuhls für Neonatologie.

Inge Rapoport war Mitglied der SED und verteidigte die DDR auch nach dem Fall des Kommunismus in mehreren Interviews. Ihrer Meinung nach war die DDR kein Unrechtsstaat, auch kein unmoralischer Staat. Sie hielt die DDR trotz der Defizite im Gesundheitswesen, in der sozialen Absicherung und im Bildungssystem, im Vergleich zur Weimarer Republik, zu den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik Deutschland für überlegen. Sie lobte insbesondere das Gesundheitssystem für die Gewährleistung der Gleichbehandlung aller ohne Rücksicht auf soziale Herkunft und Wohlstand

Ihr war jedoch auch bewusst, dass sie mit ihrer Familie in der DDR privilegiert war und dass die Benachteiligung von Kindern aus bürgerlichen Familien in der DDR falsch gewesen sei. Ihre Ideale sah sie eher als allgemein sozialistische. Sie hoffe, meinte sie, dass es einmal einen Staat geben werde, in dem soziale Gerechtigkeit herrsche und Frieden.

„Einer, der Ideale der französischen Revolution vertritt. Kommunistisch muss der nicht unbedingt sein.“

 

links: In der Charité rechts: Mit Promotionsurkunde im Alter von 102

Promotion mit 102 Jahren

Der Dekan der medizinischen Fakultät der Universität Hamburg, Uwe Koch-Gromus, erfuhr zur Zeit ihres 100. Geburtstags von ihrer Lebensgeschichte und wandte sich an die Rechtsabteilung der Universität. „Es war mir ein großes Anliegen, das bisschen, was man wiedergutmachen kann, zu unternehmen.“

Entgegen der Möglichkeit einer prüfungslosen Anerkennung eines Doktor honoris causa legte Rapoport Wert darauf, die Prüfung abzulegen, allerdings nicht zum Wissensstand zur Zeit ihrer Promotionsschrift, sondern zur gesamten Geschichte der Diphtherieforschung bis zur Gegenwart.

Im Mai 2015 verteidigte Ingeborg Rapoport in einem 45-minütigen Prüfungsgespräch vor drei Professoren der Universität Hamburg ihre Doktorarbeit, fast 80 Jahre nach deren Anfertigung und 77 Jahre nach der Ablehnung als Folge ihrer jüdischen Herkunft. Möglich war die nachgeholte Prüfung auch deshalb, weil ihr 1938 von ihrem Doktorvater Rudolf Degkwitz ein Schreiben ausgestellt worden war, in dem er bestätigte, er habe ihre Doktorarbeit angenommen, könne sie aber aufgrund der geltenden Gesetze nicht zur Promotion zulassen.

Am 9. Juni 2015 erhielt sie die Promotionsurkunde mit der Gesamtnote magna cum laude überreicht. Mit 102 Jahren war sie damit der älteste Mensch, der ein Promotionsverfahren abgeschlossen hatte. „Nicht nur unter Berücksichtigung ihres hohen Alters war sie einfach brillant. Wir waren enorm beeindruckt von ihrer intellektuellen Wachheit und sprachlos über ihr Fachwissen. Auch im Bereich moderner Medizin. Das war einfach unglaublich“, kommentierte Uwe Koch-Gromus die Prüfungsleistung.

Als Motiv für ihre Bemühungen um späte Anerkennung äußerte Ingeborg Rapoport: „Ich habe meine Promotion für die Opfer gemacht“.

2017

 

 

Aus der Ehe von Ingeborg und Samuel Mitja Rapoport gingen vier Kinder hervor, die  Biochemiker, Mathematiker, Kinderärztin und Kinderkrankenschwester wurden.

In der 2021 in der ARD ausgestrahlten dritten Staffel der TV-Serie Charité wird Ingeborg Rapoport von Nina Kunzendorf dargestellt.

Inge Rapoport veröffentlichte noch 2017 kurz vor ihrem Tod ein Kinderbuch: Eselsohren. Ein Lesebuch weint. Illustriert wurde es von Gertrud Zucker.

Gestorben ist Ingeborg Rapoport 2017 in Berlin im Alter von 104,5 Jahren.

 

 

Quelle: Wikipedia

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